Schicksalsstöcke

Nicht nur Nomen est Omen – was Namen und Kleidung über Charaktere aussagen von Diandra Linnemann

Ich habe einen oft wiederkehrenden schrecklichen Traum. In einem dunklen Raum sitzen lauter Autorinnen, die sich über ihre Romane unterhalten. Eine Stimme fragt: “Wie würdet ihr den Protagonisten in einem Liebesroman nennen?”
Ich beginne, Fragen zu stellen: “Wo spielt die Geschichte? Und in welchem Jahrhundert? Sind seine Eltern religiös? Hat seine Mutter einen Lieblingsschauspieler?”
Aber niemand hört mich, denn da sind andere Stimmen, die mich übertönen: “Nenn ihn Bradley!”
“Ich finde Jonas gut!”
“Wie wäre es mit Aciathrion?”
Wenn ich aufwache, bin ich schweißgebadet.

Zugegeben, ich bin vorgeschädigt. Während meines Studiums, noch ehe das Bachelor-Desaster über die deutschen Universitäten hereinbrach, hatte ich die Chance, quasi nebenbei einige Kurse in Soziologie zu belegen. Für eine richtige Karriere war mir das Fachgebiet zu unsicher – ich bin stattdessen diplomierte Übersetzerin geworden – aber einen Eimer voll mit nützlichem Wissen habe ich aus den Kursen dann doch mitgenommen. (Unter anderem die Erkenntnis, dass es bei Powerpoint-Präsentationen so etwas wie “zu viele Special Effects” gibt.)
Das Wichtigste für mein Leben als Autorin ist jedoch die Erkenntnis, dass Menschen ein Produkt ihrer Umgebung sind, und das sieht und hört man ihnen auch an. Kleidung beispielsweise ist nicht nur etwas, das einen warm hält, sondern ein Statement – sogar wenn das Statement lautet: “Mir ist egal, wie es aussieht, Hauptsache es hält warm.”


[Statement: „Hauptsache bunt“.]

In älteren Comics wurde Kleidung oft vereinfacht dargestellt, da es an den technischen Möglichkeiten fehlte, groß ins Detail zu gehen. Menschen im Hintergrund waren eher farb- und freudlos, wichtige Personen in bunten Farben dargestellt – und Superhelden trugen Capes, um die Bilder dynamischer wirken zu lassen. Oft bleibt die Kleidung eines Charakters über lange Zeit gleich oder ändert sich nur minimal, denkt etwa an Donald Duck! Auf diese Weise kann man sich in Comics und Graphic Novels leicht zurechtfinden und die verschiedenen Charaktere schnell erkennen und zuordnen.
In der realen Welt funktioniert das ganz ähnlich. Den Markenklamottenzwang unter Jugendlichen haben klügere Leute als ich schon mit mehr Worten geschunden, doch auch im Büro oder Samstags in der Innenstadt spielt Kleidung eine Rolle. Mit Kleidung drücken Leute aus, wie sie gesehen werden wollen und was sie für angemessen halten. Wie lang oder kurz ist ein Rock? Wieviel Haut zeigt man? Ist Mustermix okay oder nicht? Und diese Entscheidungen, auch wenn man da morgens nicht viel Zeit drauf verschwendet, entstehen nicht im Vakuum oder finden zufällig statt. Wir sind nämlich durch unsere Umgebung geprägt. In vielen Familien gehört der Satz: “Willst du wirklich so rumlaufen?” zum festen Elternrepertoire. Und ob wir später den Vorstellungen unserer Eltern folgen oder rebellieren und uns neu erfinden wollen – so oder so beeinflussen sie unseren Stil und unser Aussehen. Aber es geht nicht nur um Stil, sondern auch um Kleinigkeiten wie das eigene Budget oder die ethischen Anforderungen, die man an seine Kleidung stellt: Eine Frau im Chanel-Kostüm mit teurer Handtasche wird ganz anders wahrgenommen als ein Sektenanhänger im gelben Betttuch mit Flipflops an den Füßen und Blumen im Bart. Wir sehen, wie Leute herumlaufen, und treffen direkt Annahmen über sie. Kopftuch – Muslima. Mönchskutte – katholisch. Socken in Sandalen – eher gemütlich als modebewusst. Und so weiter.
Mit Namen, um auf meinen Albtraum einzugehen, sieht es ganz ähnlich aus – nur dass wir uns den meistens nicht selbst aussuchen. Versucht es einmal selbst: Macht die Augen zu (nachdem ihr diesen Absatz zu Ende gelesen habt natürlich) und stellt euch einen Hans vor. Wie sieht der aus? Wo kommt er her? Genau. Und jetzt macht das gleiche mit einem Gerome. Oder mit einem Alistair. Einer Kunigunde, einer Helga und einer Jamila.


[Wir hätten den Kater vielleicht nicht Greebo nennen sollen.]

Habt ihr es gesehen? Dann könnt ihr die Augen wieder aufmachen. Und jetzt überlegen wir gemeinsam, was wir mit einem Namen über unsere Charaktere aussagen. Natürlich ist Mark oder Bryce ein cool klingender Name, aber wenn die Geschichte zufällig in Unterföhren spielt, brauche ich als Autorin schon eine wirklich gute Ausrede dafür, dass ausgerechnet dort ein Bryce herumrennt. Als nächstes: Was für Anekdoten erlebt er wohl wegen seines Namens? Wurde er gemobbt? Hat er sich einen Spitznamen zugelegt? In einem meiner Lieblingsbücher, “Die Frau des Zeitreisenden” von Audrey Niffenegger, planen die Protagonisten seitenweise den Namen eines ungeborenen Kindes – der Name soll gut klingen, einzigartig sein und eine positive Bedeutung haben. Soviel Energie wird in den meisten Familien von den Eltern in einen Namen gesteckt. Katholische Eltern nennen eine Tochter eher Maria oder richten sich nach dem jeweiligen Namenstag. Die berüchtigte “Dinkelmuttermafia” (Disclaimer: Ich habe nichts gegen Dinkel) läuft auf dem Spielplatz eher Kindern mit Namen wie Mariella-Friederike oder Yves-Alexander hinterher. Und bei Chantal denken die meisten von uns hoffentlich an die Assibratzen aus “Fack ju Göthe”.
Genug der klugen Worte. Natürlich haben Autorinnen große künstlerische Freiheit, aber gerade im Fantasybereich gilt meiner Meinung nach, dass die Dinge, die aus der realen Welt stammen (könnten), besonders glaubwürdig sein müssen, damit die Leser uns den ganzen fantastischen Rest abkaufen. Das gilt nicht nur, aber auch für Namen unserer Charaktere – und natürlich für Kleidung, obwohl man sie im Roman, anders als im Comic, nicht konstant vor Augen hat.

Diandra Linnemann verbringt mehr Zeit, als vernünftig ist, damit, die strengen Kleidungsregeln im Büro nur so gerade eben einzuhalten. Sie kleidet sich weder alters- noch standesgemäß und hat ein ausgeprägtes Farbkoordinationsproblem.

**Autorin des Beitrags ist Diandra Linnemann

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