Zuletzt in Griechenland, heute ist die literarische Weltreise des Nornennetzes mit Diandra Linnemann in Nigeria.
Es war einmal ein junges Mädchen, das liebte Bücher.
Allerdings fand es keine Bücher über das Leben, wie es selbst es kannte, denn zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Nigeria keine nennenswerte einheimische Buchkultur. Also las das Mädchen sämtliche Klassiker, die ihm in die Finger fielen, und lauschte nach der Schule den Geschichten der Frauen, die zu seiner Mutter in die Nähstube kamen. Hier lernte es viel über die Geschichte, Mythen und Götter seiner Kultur. Diese Themen sollten später in den Geschichten, die das Mädchen erzählen würde, eine bedeutende Rolle spielen.
Zu dieser Zeit begab es sich, dass Nigeria sich um seine Unabhängigkeit von Großbritannien bemühte. Diese Auseinandersetzungen dauerten viele Jahrzehnte und prägten Kindheit und Jugend des Mädchens, welches inzwischen zu einer erwachsenen Frau heranwuchs. Sie verließ ihre Heimat, um zu studieren, kehrte nach wenigen Jahren zurück und schrieb auf Englisch einen Roman namens „Efuru“. Dadurch wurde sie zur ersten veröffentlichten nigerianischen Autorin. Zu diesem Zeitpunkt war afrikanische Literatur international kaum bekannt, und die Literaturkritiker anderer Länder verstanden nicht, was die junge Frau sagen wollte. Sie jedoch ließ sich davon nicht abhalten und schrieb weitere Bücher über das Leben der Frauen in ihrer Gemeinschaft. Außerdem leistete die Autorin wertvolle politische Arbeit in wichtigen Positionen und brachte ihr Land wirtschaftlich und kulturell weiter.
Eines Tages beschloss die Frau, ihren eigenen Verlag zu gründen. Hier veröffentlichte sie Bücher für Kinder und Erwachsene. Immer lag ihr Augenmerk dabei auf den Erfahrungen nigerianischer Frauen und Mädchen.
Inzwischen hatten sich auch die Fachleute aus anderen Kontinenten daran gewöhnt, dass eine nigerianische Frau eine herausragende Autorin sein konnte. Also wurde sie eingeladen, überall auf der Welt über ihre Bücher und das, was sie über Literatur wusste, zu sprechen. Nach langer Introspektive entdeckte sie schließlich auch das Label Feminismus für sich, denn so, wie sie Feminismus verstand, ging es um Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheit. Und wenn sie nicht im Jahr 1993 an einer Lungenentzündung gestorben wäre, würde Flora Nwapa vielleicht noch heute leben und die Leser*innen begeistern.
Eine weitere zauberhafte Autorin, die an dieser Stelle Erwähnung verdient, ist die nigerianisch-amerkanische Autorin Nnedi Okorafor. Sie wurde als Kind nigerianischer Eltern in den USA geboren, da diese wegen des nigerianischen Bürgerkriegs in den Siebzigern nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten. Nach einer komplizierten Wirbelsäulenoperation war sie als junge Erwachsene zeitweise von der Hüfte abwärts gelähmt. In dieser Zeit begann sie, erste Minigeschichten zu schreiben, und überwand ihre Lähmung weitestgehend, mit Hilfe intensiver Therapie. Anstatt Profisportlerin zu werden, wie sie als Jugendliche geplant hatte, studierte sie Journalistik und Englische Literatur und promovierte im Jahr 2007 an der Universität von Chicago. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht. In ihren preisgekrönten Werken setzt sie sich oft mit afrikanisch-futuristischen Visionen auseinander und verbindet diese auf ungewöhnliche Weise mit aktuellen Science-Fiction- und Fantasy-Themen. Sie selbst verwendet den Begriff “Afrikanischer Jujuismus”, wenn sie von ihrem Werken spricht. Diverse Werke werden gegenwärtig als Vorlagen für Film- und Serienproduktionen verwendet. Außerdem setzt sie sich aktiv für die Grundrechte der nigerianischen Bevölkerung ein. Ihr Hauptwohnsitz befindet sich in den USA, aber sie reist regelmäßig nach Nigeria und verbringt dort viel Zeit.
Die Sache mit dem Frauenwahlrecht in Nigeria ist etwas komplizierter. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stand das komplette Gebiet des heutigen Nigeria unter Kolonialherrschaft. Nach dem zweiten Weltkrieg bestand dieses Gebiet aus verschiedenen Provinzen, die teilweise unter französischer und teilweise unter britischer Verwaltung standen. Und in diesen verschiedenen Regionen entwickelte sich auch das Frauenwahlrecht unterschiedlich. Einen groben Überblick soll es trotzdem geben.
Schon in vorkolonialer Zeit hatten die Frauen der Stämme in dem Gebiet, aus dem später Nigeria wurde, trotz starker Geschlechtertrennung in etwa gleich viel Verantwortung und Freiheit wie die Männer.So waren beispielsweise die Frauen dafür verantwortlich, ihren Kindern die Ausbildung zu ermöglichen. Auch war es für sie nicht ungewöhnlich, außer Haus zu arbeiten. Viele dieser Dinge verschlechterten sich für die Frauen im Rahmen der Kolonialisierung, aber sie waren sehr erpicht darauf, ihre Freiheiten zurückzuerobern und auszuweiten.
Bereits 1946 wurde die “Abeokuta Women’s Union” (AWU) gegründet, welche 1950 in der “Nigeria Women’s Union” aufging. Diese Vereinigungen kämpften für die Rechte der Frauen, beispielsweise für politische Repräsentation und faire Besteuerung. Die AWU argumentierte, es sei unfair, dass weibliche Ladenbesitzer:innen etc. Steuern zahlen müssten, wenn sie keine entsprechende politische Repräsentation hätten. Ihre Aktionen waren oft erfolgreich. Nigerianische Parteien erkannten früh den Wert von aktiven weiblichen Mitgliedern und schufen eigene Frauenabteilungen, um die Energie dieser Frauenbewegungen in ihre politische Arbeit umzulenken. Davor waren die Frauengruppen eher apolitisch gewesen und hatten sich mit konkreten Alltagsproblemen befasst.
In der südlichen Region Nigerias bekamen Frauen ab 1950 das Wahlrecht in kleinen Schritten zugesprochen, und ab 1959 konnten sie dort auf Bundesebene sowohl wählen als auch gewählt werden. Im Osten der Region erhielten Frauen bereits 1954 das Wahlrecht auf Bundesebene. Im Westen durften seit 1955 nur Frauen, die Steuern zahlten, wählen. Im Jahr 1960 kam dann das allgemeine Wahlrecht, eine Begleiterscheinung der Unabhängigkeit Nigerias. In einigen muslimisch-konservativen Regionen im Norden erhielten Frauen das Wahlrecht allerdings erst im Jahr 1976, und im Rahmen einer neuen Verfassung erhielten im Jahr 1979 endlich alle erwachsenen Nigerianer:innen das Wahlrecht auf Bundesebene. Gleichzeitig wechselte das junge Land mehrere Male zwischen den Staatsformen der Demokratie und der Militärdiktatur, so dass es für das tatsächlichen Wahlrecht – nicht nur für Frauen – zeitweise finster aussah. Erst seit 1999 gilt Nigeria wieder als Demokratie, und die ersten als halbwegs fair eingestuften Wahlen fanden erst in den 2010er Jahren statt.
Doch auch heute noch sehen sich Frauen, die in die Politik wollen, oft Anfeindungen und sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt. Im Jahr 2011 waren gerade einmal sieben Prozent aller Mandatsträger:innen weiblich.
Die erste gewählte Politikerin Nigerias auf nationaler Ebene war im Jahr 1964 die Lehrerin Esther Soyannwo, die einen Sitz im House of Representatives gewann. Allerdings fand ihre Wahl inmitten blutiger Auseinandersetzungen statt, sodass ihre Partei sie dazu bewog, ihren Sitz noch vor der Vereidigung wieder aufzugeben. Dieser Vorgang erweckte internationales Interesse – sogar die New York Times berichtete über sie.
Von hier aus geht es auf der literarischen Weltreise in den Sudan. Seid gespannt, was uns Roxane Bicker zu berichten weiß!
Ein Beitrag von Diandra Linnemann