Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit"
Schicksalsstöcke

Rauhnächte: 11. Rauhnacht Lila

Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit", recht unten eine 11
Grafik: Jana Jeworreck

CN: Rassismus

„Hier müssen sie ihren Unterschlupf haben, in den Höhlen.“ Hauptfrau Lirama Arygen kreiste auf der Karte ein Gebiet nahe eines aufgegebenen Bauernhofs ein. „Zusammen mit der Bürgerwehr können wir sie ausräuchern.“

Nireen hörte ein Knurren und sah auf. Sie erfasste nur noch die letzte Geste, die Tivon sprach, doch seine zurückgelegten Ohren bezeugten seinen Widerspruch.

„Wem stimmst du zu, Herrin?“ Limara sah sie abwartend an.

Auch Tivon warteten auf ihre Entscheidung.

Nireen massierte sich die Nasenwurzel und sandte eine stumme Bitte an die Göttlichen Sieben, ihr eine Eingebung zu schenken. „Sie haben das Mühllager geplündert.“ Ihre Müdigkeit stellte jedem Gedanken ein Bein. Ihre Augen schmerzten von den magischen Lichtern, die unruhig den Raum in alle Farben des Regenbogens tauchten. Seit Monden zerfraß dieser Konflikt ihre Ländereien, ihre Pächter und sie selbst.

„Es sind Schmutzgnome, Herrin“, wandte die Hauptfrau ein. „Sie belästigen die Bauern und stehlen uns alles, dessen sie habhaft werden können.“ Entschlossenheit sprach aus ihrem Blick. „Alle Finsterlinge sind verschlagen, schadenfroh und primitiv!“

Erneut erklang ein Grollen aus der Kehle des Carniden. „Ihr habt auch über Jahrhunderte von uns Tierischen behauptet, wir wären dumm.“

„Die meisten von euch können nicht sprechen!“

Knurrend hob Tivon die Hände für eine Erwiderung, doch Nireen unterband das. „Limara, bitte.“ So herausragend ihr taktisches Denken war, Lirama vertrat stur die Idee einer elfischen Überlegenheit.

Tivon schüttelte sich, als wolle er sich von seinem Unbehagen befreien. Nur sein Nackenfell blieb gesträubt.

„Zurück zum eigentlichen Problem.“ Schwer stützte sich Nireen mit beiden Händen auf den Tisch. „Vielleicht sollte ich nachgeben.“ Resignierend sah sie zu demjenigen, auf dessen jahrelange Erfahrung mit den Gnomen sie setzte. „Was sagt Ihr, Tivon?“

Der Carnide sah auf die Karten. Sein Fell glättete sich, seine Ohren stellten sich auf. Nach einigen Momenten begegnete er ihrem Blick. „Redet mit ihnen.“ Eines der Lichter spiegelte sich in seinen Augen, verfärbte sie lila.

„Diplomatie ist bei Feenartigen sinnlos!“, wandte Lirama ein.

Leider zurecht. Die ersten Versuche, ein Übereinkommen zu treffen, hatten den Bauern im Norden sämtliche Ernte gekostet. Geblieben waren ihnen nur verwüstetes Felder. Nireen ließ den Kopf hängen, schloss die Augen.

„Nireen, Herrin, denk doch mal nach ….“, begann die Hauptfrau, aber Nireen hörte nicht mehr zu. Ihr Schädel dröhnte. Jeden Tag kamen Nachrichten von Raubzügen durch Schreckgestalten und Brandstifter, manchmal von Getöteten. Alte Zerwürfnisse kochten hoch, niemand wollte übervorteilt werden und alle klammerten sich an das, was sie hatten. Elfen stritten mit Zwergen über Traditionen, Menschen fühlten sich dadurch ungerecht behandelt und Tierische versuchten, nicht erneut im Gesellschaftsgefüge unterzugehen.

Die Tür riss Nireen aus ihren Gedanken. Mit wehenden Locken stürmte Hannah herein. Ihre Augen waren vor Kummer geweitet, die sonst freundlichen Fältchen darum Sorgenfalten.

Nireen empfing ihre Liebste mit ausgestreckten Händen.

„Nirie, Jennae ist verschwunden!“, japste Hannah verzweifelt. „Er ist nicht in seinem Bett und auch nicht in der Küche. Ich habe die Schlosswache alarmiert!“

Nireen sah in Hannahs Augen. Dort, wo lediglich Blau sein sollte, sah sie ein lila Glimmen; es flößte ihr Zuversicht ein.

„Dein Kind ehrt Jyg mit seinem Vertrauen.“ Die helle Stimme erfüllte den ganzen Raum, gefolgt von einem perlenden Kichern.

Lirama zog ihr Schwert.

Für den Bruchteil eines Augenblicks sah Nireen eine kleine Gestalt in leuchtendem Violett in der offenen Tür zum Korridor.

Nireen ließ Hannahs Hände los und eilte zur Tür. „Lirama, stell Suchtrupps zusammen! Ich muss etwas prüfen.“ Alle Einwände ignorierte sie. Am anderen Ende des Flurs winkte ihr eine Kindergestalt, umgeben von einem lila Schimmer.

Einen Wimpernschlag trafen sich ihre Blicke. Nireens Herz begann zu glühen, unendlich erwärmt von dem fröhlichen Gesicht. Dann huschte die Gestalt davon.

„Warte!“ Nireen hastete hinterher. Jemand folgte ihr, aber sie sah nicht zurück, rannte durch Gänge, Treppen hinunter. So spät begegnete sie nur salutierenden Wachen.

Erst im äußersten Winkel ihres Schlosses nahm die Jagd ein Ende. Nireen betrat einen Kerker.

Die Wachsoldaten nahmen verblüfft Haltung an. „Herrin, wollt ihr die Gefangenen sehen?“

Nireen fuhr zu dem Sprecher herum. „Gefangene?“

In dem Moment betrat auch Tivon das Verlies.

Streng sah Nireen den Carniden an. „Warum weiß ich nichts von Gefangenen?“

Tivon hob überrascht die Ohren, gelobte Unwissenheit.

Verärgert wandte sich Nireen an den Soldaten.

Unbehagen sprach aus dessen Worten: „Wir haben unsere Anweisungen direkt von Hauptfrau Arygen erhalten. Und Stillschweigen geschworen.“

„Damit keine Panik ausbricht“, beteuerte eine Soldatin.

„Wobei die Bälger der Finsterlinge nicht sehr furchteinflößend sind.“ Der Wachsoldat lachte nervös.

Auf Nireens scharfen Blick verstummte er. „Die Gefangenen sind Kinder?“ Doch Nireen hatte genug gehört. Entschlossen wandte sie sich an Tivon. „Finde Hauptfrau Arygen und verhafte sie! Das hier ist Verrat.“

Tivon nickte. Seine Augen sahen hinter Nireen, ein Funke violetten Lichts spiegelte sich in ihnen. Sein Fell wurde glatt, seine Rute entspannt. Er forderte zwei der Wachen auf, ihm zu folgen.

Nireen ging in den düsteren Kerker. Zwei der drei Gefängnisse der Burg waren zu Vorratskammern umfunktioniert, auf die Erhaltung dieses einen hatte Limara bestanden.

Wenige Stufen führten in die Tiefe in einen Zellentrakt. Lediglich eine Fackel erleuchtete die feuchten Wände. Gleich vor dem ersten Gitter standen zwei Kinder: das eine gehüllt in eine strahlendeviolette Aura, das andere mit schuldbewusst gesenktem Kopf. Jennae!

Die lila Gestalt kicherte, zwinkerte ihr zu und verschwand. Wenige Wimpernschläge erinnerten glitzernde Funken an ihre Anwesenheit, dann wurde es dunkler im Verlies.

Nireen ging vor ihrem Kind in die Knie, schloss es in die Arme. „Du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.“

Unbeholfen versuchte Jennae, eine Tasche hinter seinem Rücken zu verbergen. „Das wollte ich nicht“, murmelte er, „Ich habe gesehen, wie sie hergebracht wurden. Sie taten mir Leid. Sie sind so dünn.“

Erst jetzt sah Nireen an ihm vorbei in die Zelle. Zwei kleine Wesen kauerten dort, an Handgelenken und Hals an die Wand gekettet. Unter ihrer bleichen Haut zeichneten sich Knochen ab. Lange spitze Ohren ragten über die runden Köpfe hinaus und große, völlig nachtblaue Augen sahen sie verängstigt an.

Nireen nahm Jennae die Tasche ab und sah hinein. Er musste Vorräte aus der Küche gestohlen haben. „Du hast alles richtig gemacht. Wir beenden diesen unsinnigen Kampf, bevor wir alle verhungern.“

Ein Beitrag von Jule Reichert.

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