Tintenfass mit Feder schriftzug Fantasy und Philosophie
Schicksalsstöcke

Fantasy und Philosophie

Wissen Sie. Ich besuche schon mein Leben lang Buchhandlungen. Wenn ich an solchen Fantasy-Schinken vorbeigehe, sehe ich nichts Neues. Ein Klappentext klingt wie der andere. Ein Cover gleicht dem nächsten. Jeder Titel ließe sich ebenso gut über das Nachbarbuch setzen. Ich bilde mir ja wirklich ungern Vorurteile, aber verkauft sich das nicht bloß deshalb so gut, weil es uns die echten Probleme ignorieren lässt? Weil es so unheimlich einfach ist? Eine lebensgefährliche Aufgabe und sobald sie bewältigt ist, ist alles gut. Wenn die magische Welt gerettet ist, braucht uns die Realität nicht mehr zu interessieren. Was uns die Lektüre bringt: Nichts. Nur eine Flucht in eine Fantasiewelt. Ein nettes Augenverschließen. Es ist wie Schlafen.“

Dieser Auszug aus einer Kurzgeschichte von mir behandelt ein Problem, das mir immer wieder begegnet. Viel zu oft wird Fantasy für ein triviales Genre gehalten. Das Zitat ist zwar fiktiv, allerdings inspiriert durch zahlreiche reale Gespräche, die ich geführt habe.

Grund für Vorurteile scheint vielfach die Realitätsferne zu sein. Fantasywelten halten sich nicht an die Naturgesetze unserer Realität, sondern entwerfen ihre Regeln selbst.

Ein Genre, das vom Unmöglichen handelt? Was nützt uns das?

Leicht kann die Annahme entstehen, Fantasyromane ergingen sich in Traumwelten. Sie könnten uns keine Antworten auf die Wirklichkeit liefern.

Wer so argumentiert, verkennt jedoch, dass Wirklichkeit und Fiktion selbst bereits ausgesprochen komplexe Untersuchungsgegenstände sind. Im Folgenden will ich die philosophische Komponente der Fantasy in den Blick nehmen und zeigen, wieso das Genre keineswegs trivial ist.

Was ist „Wirklichkeit“?

Unter Wirklichkeit kann sowohl die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit verstanden werden als auch die denkbare Wirklichkeit.

Dieser wichtige Unterschied führt zurück in die antike Philosophie und zur Differenzierung in Idealismus und Materialismus. Während der Materialismus die empirische Welt zum Gegenstand hat, untersucht der Idealismus die apriorische Abstraktion dahinter. Apriorisch sind Kenntnisse, die allein auf Basis theoretischer Überlegung getroffen werden. Kenntnisse also, die nur geistig erfassbar sind.

„Cogito ergo sum“ – „Ich denke also bin ich“ von René Descartes ist ein berühmtes Beispiel für einen apriorischen Schluss. Diese Einsicht lässt sich nicht empirisch überprüften, sondern nur logisch nachvollziehen.

Empirisch ist hingegen unsere Umwelt. Kenntnisse der Naturwissenschaft beruhen auf sinnlicher Wahrnehmung und daraus gezogenen Schlüssen.

Einen Sonderfall bildet die abstrakte Mathematik.

An einem Beispiel lässt sich der Unterschied zwischen Idealismus und Materialismus einfach zusammenfassen: Das Gehirn ist materiell, seine Gedanken sind ideell.

Was hat das mit Fantasy zu tun?

Es wurde eingangs erwähnt, dass die Außerkraftsetzung der Naturgesetze ein entscheidendes Merkmal der Fantasy ist. Damit überwindet sie die empirische Wirklichkeit und spielt alle Möglichkeiten des bloß Vorstellbaren aus. Fantasy interessiert sich nicht für das, was ist, sondern für das, was sein könnte. Dabei sind ihre Welten in der Regel nicht prinzipienlos, sondern funktionieren nach eigenen Prinzipien. Wird die Prämisse gesetzt, dass Besen in dieser Welt fliegen können, dann müssen sie auch im nächsten Kapitel fliegen können oder eine andere Prämisse (zb. Flugverbot am Sonntag) hebelt die Erste aus.

Auch die Gesetzlosigkeit kann die Prämisse sein, wenn die Geschichte etwa im Traum stattfindet.

Fantasy entwirft theoretische Welten. Dass ein bloß denkbarer Fall trivialer sein soll als ein empirisch wahrscheinlicher Fall, lässt sich nicht rechtfertigen. Denn das würde einen Großteil der Philosophie für trivial erklären.

Philosophie und Fantastik

Wie fruchtbar die Philosophie für die Fantastik ist, belegen zahlreiche Beispiele:

„Matrix“ ist ein Film, der mit Fakt und Fiktion spielt. Die als echt angenommene Welt der Hauptfigur entpuppt sich als Fiktion. Der erfolgreiche Actionfilm nutzt dabei viele philosophische Gedankenexperimente.

Der englische Schriftsteller Charles Williams verfasste mit „The Place oft the Lion“ einen Roman, der auf Platons Ideenlehre fußt. Auch dessen bekannterer Kollege C.S. Lewis lässt in die „Chroniken von Narnia“ Gedanken des Idealismus einfließen.

Ebenso inspirierend wie der Idealismus, kann der Phänomenalismus sein. Demnach lässt sich die Wirklichkeit nicht als solche vom Menschen erkennen. Erkennbar ist nur die sinnliche Wahrnehmung der Wirklichkeit. (https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/phaenomenalismus/11483) Die Welt ist also das, was wir darin sehen.

Hier setzt Matrix an.

Fakt und Fiktion

Philosophisch lässt sich aber nicht nur die Abkehr von der Wirklichkeit rechtfertigen. Es lässt sich auch eine Wirklichkeitsnähe der Fantasy begründen.

Was „Wirklichkeit“ bedeuten kann, wurde nun geklärt. Was aber heißt „fiktiv“?

Aus panfiktionalistischer Perspektive beginnt die Fiktion bereits mit der sprachlichen Darstellung der Realität.1 Sprache ist nicht die Wirklichkeit, sondern bloß eine Abbildung der Wirklichkeit.2 Dieser Extremposition zufolge sind alle Texte Fiktion, ob es sich nun um Sachtexte handelt oder um Romane.

Nun muss jedoch zwischen fiktiven und fiktionalen Texten unterschieden werden.

„Der Glöckner von Notre Dame“ spielt im fiktionalen Paris 1482. Fiktiv ist Paris dadurch nicht. Sherlock Holmes ist fiktiv, die Baker Street im Roman dagegen nur fiktional.3

Fantasyromane zeichnen sich also durch einen hohen Fiktivitätsanteil aus.

Das muss sie nicht zwangsläufig eskapistisch machen. Dem Panfiktionalismus steht die andere Extremposition gegenüber, dass alle Texte ihre Strukturen der Wirklichkeit entnehmen. Fantasywelten sind nicht frei erfunden, sondern weisen entscheidende Parallelen zu unserer Realität auf. Wer für Flugbesen die Schwerkraft aufhebt, geht zunächst von Schwerkraft aus. Eine vollständig wirklichkeitsferne Welt ist kaum vorstellbar. Denn sie wird immer auf der Grundlage dieser Wirklichkeit funktionieren. Zugespitzt lässt sich sagen: Fantastik ist bloß neukombinierte Wirklichkeit.

Die Figuren handeln auch in Fantasyromanen nachvollziehbar. Die Psyche einer Hexe gleicht der eines Menschen. Die Annahme einer Hexe ist damit gleichzeitig die Frage „Wie würden Menschen mit Unsterblichkeit oder mit Magie umgehen?“ Es handelt sich dabei um Szenarien, wie sie wiederum auch in der Philosophie auftauchen. Figuren werden in moralische Zwickmühlen und Extremsituationen getrieben. Wie sie darauf reagieren, fußt auf empirischen Erfahrungen aus Geschichte und Gegenwart. In „Game of Thrones“ lassen sich beispielsweise sehr viele Parallelen zu realen geschichtlichen Ereignissen finden.

Die innere Wahrheit“

Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit ist seit Jahrtausenden Gegenstand von Philosophie, Ästhetik und Kulturtheorie. Bereits in Aristoteles Poetik taucht der Begriff der Mimesis auf, der Nachahmung der Wirklichkeit.4

Dieser Begriff wird in der Renaissance wiederentdeckt und weiterentwickelt.5 Erst im 18. Jahrhundert nimmt das Fiktionsverständnis die Gestalt an, die uns heute vertraut ist.6 Literatur wird als das „Mögliche“ verstanden. Wer Texte dieser Zeit nach Fiktionsverständnis durchstöbert, stößt gelegentlich auf Begriffe wie „innere Wahrscheinlichkeit“7, „innere Wahrheit“8 oder „Kunstwahrheit“9. Heute würden wir vielleicht von „Glaubhaftigkeit“ sprechen. Gemeint ist, was oben am Beispiel der Hexe erklärt wurde, die menschlich nachvollziehbar handelt. Auch Fantasy besitzt eine innere Wahrheit. In dieser Grundwahrheit stimmt sie mit unserer Wirklichkeit überein. Auf dieser Basis lassen sich auch Konflikte aus der Wirklichkeit in eine fantastische Welt transferieren.

Wie das funktioniert, lässt sich gut an meinem kursiv gedruckten Textauszug zu Beginn des Artikels erklären. Über den Textauszug habe ich festgestellt, dass er fiktiv ist, allerdings inspiriert durch reale Gespräche. Die Ausgestaltung ist fiktiv, eine Wahrheit liegt ihr jedoch zu Grunde: Die Wahrheit, dass viele Menschen Fantasy für trivial halten. Ein reales Faktum wird dabei auf sein Substrat reduziert. Dies führt zurück zum Idealismus. Wie erklärt, betrachtet der Idealismus nicht die empirische Wirklichkeit, sondern die abstrakte Wirklichkeit dahinter. Jede abstrakte Idee hat ihre Abbildung in der empirischen Welt. Die abstrakte Liebe kann sich empirisch in einer Umarmung ausdrücken. Andersherum lassen sich empirische Ereignisse auf deren abstrakten Kern konzentrieren. Auch dafür ein Beispiel, an dem sich anschließend dessen Nutzen für die Fantasy verdeutlichen lässt:

Als empirisches Ereignis dient die deutsche Teilung. Sie hat auf eine ganz bestimmte Weise stattgefunden: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland durch die Siegermächte in vier Besatzungszonen geteilt. Der Ost-West Konflikt führte schließlich zur Teilung zwischen der sowjetischen Zone und den drei übrigen Zonen. Eine Mauer wurde errichtet und die Hauptstadt, Berlin, wurde in Sektoren geteilt. Zahlreiche weitere Details ließen sich aufführen. Von diesem speziellen Fall lässt sich zu einem allgemeinen Fall abstrahieren:

Ein Land wird geteilt.

Dieser allgemeine Fall lässt sich als Konflikt für einen Roman nutzen und hier wieder sehr detailreich ausschmücken: Durch einen Erbschaftsstreit in einer Drachendynastie wird das Königreich, Velmeria, in Nord- und Süd-Velmeria geteilt. Als Grenze dient eine unüberwindbare Dornenhecke.

Hierbei wird deutlich, dass Fantasy sehr wohl realitätsnahe Grundkonflikte nutzt: Kriege, Politik, Suche nach Identität und Herkunft und vieles mehr. Sie stellt sie bloß in verfremdeter Weise dar.

Der Nutzen der Verfremdung

Wozu aber diese verfremdete Darstellung?

Auf diese Frage gibt es vielleicht so viele Antworten wie Fantasyautor*innen. Ich will ein persönliches Erlebnis als Beispiel nehmen: Es war 2021. Im Studium las ich über den Dreißigjährigen Krieg, in den Nachrichten liefen die schrecklichen Bilder aus Afghanistan, wo die Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen die Macht zurückerlangten.

Es waren zwei völlig unterschiedliche Ereignisse, in deren Schrecklichkeit und Irrationalismus ich trotzdem Parallelen erkannte. Ich wollte dieser Wut auf Extremismus und Krieg literarisch Ausdruck verleihen. Es war aber die Wut auf Krieg im Allgemeinen, egal wo, wann oder durch wen er geführt wird. Eine fantastische Ausgestaltung des allgemeinen Phänomens schien mir die passende Lösung. Ich konnte dadurch von den speziellen Fällen Afghanistan und Dreißigjährigem Krieg abstrahieren. Entstanden ist eine Novelle über einen Religionskrieg zwischen fiktiven Ländern. Trotzdem konnten Testleser*innen ihre reale Welt darin wiedererkennen. Mehr noch: Es konnten Parallelen zu allen möglichen Fällen geknüpft werden, die ich überhaupt nicht intendiert hatte. Es schien mir also gelungen, ganz allgemein den Krieg und dessen Sinnlosigkeit zu verurteilen.

Fazit

Es gibt tausend Gründe, einen Konflikt fantastisch zu verarbeiten. Die Abstraktion vom spezifischen Fall ist einer davon.

Unsere gesamte gegenwärtige Realität kann als Resultat zufällig eingetretener Spezialfälle aus dem Pool des theoretisch Möglichen betrachtet werden. Mir käme es wie eine grundlose Einschränkung meiner literarischen Mittel vor, mich an ihre Gesetze zu halten. Warum muss ich meinen Diktator Caesar nennen und warum muss er eine Toga tragen, wenn mich an dem ganzen Konflikt doch eigentlich der Sturz der Demokratie interessiert, der immer und überall stattfinden kann? Andere Autor*innen legen großen Wert auf äußere Authentizität. Aber es handelt sich dabei wohlgemerkt um eine äußere Ausgestaltung. Trivial kann nicht die Form, sondern nur deren Inhalt sein. Und mehr als eine Form ist eine Textgattung nicht. Fantasy und Fantastik bezeichnen Kategorien. Damit verbunden sind Herangehensweisen, Gestaltungsformen, aber die Konflikte der Fantasy können genauso realitätsnah und komplex sein wie in jedem anderen Genre. Das macht die Fantastik zeitlos und spannend.

Ein Artikel von Artemis Lindewind

1Vgl. Konrad, Eva-Maria: Panfiktionalismus. In: Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Tilmann Köppe/Tobias Klauk. Berlin/Boston: De Gruyter 2014. S. 235 f.

2Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. 2. Aktualisierte Auflage. Frankfurt / New York: Campus Verlag 2018 (Historische Einführungen Band 4). S. 160.

3Bareis. J. Alexander: Faktual und Fiktional erzählte Welten. In: Welt(en) erzählen. Hg. von S. 89-90

4Vgl. Galle, Helmut: Zur Fiktionalität realistischen Erzählens. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Fiktionalität. Hg. v. Lut Missinne/Ralf Schneider/Beatrix Theresa von Dam. Berlin: De Gruyter 2020. S. 123.

5Vgl. Galle, Helmut: Zur Fiktionalität realistischen Erzählens. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Fiktionalität. Hg. v. Lut Missinne/Ralf Schneider/Beatrix Theresa von Dam. Berlin: De Gruyter 2020. S. 123.

6Vgl. Galle, Helmut: Zur Fiktionalität realistischen Erzählens. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Fiktionalität. Hg. v. Lut Missinne/Ralf Schneider/Beatrix Theresa von Dam. Berlin: De Gruyter 2020. S. 123 f.

7Lessing, Gotthold Ephraim: Brief vom 29. November 1759. (http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,+Gotthold+Ephraim/%C3%84sthetische+Schriften/Briefe,+die+neueste+Literatur+betreffend/Vierter+Teil )

8Humbold, Wilhelm von: Über die Aufgabe des Geschtsschreibers. Zit. nach Reiser, Marius: „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt“ . Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen. Freiburg / Basel / Wien: Herder Verlag 2021. S. 22.

9Schiller, Friedrich: Brief vom 10.12.1788. Zit. nach Reiser, Marius: „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt“ . Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen. Freiburg / Basel / Wien: Herder Verlag 2021. S. 101.

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