Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit"
Schicksalsstöcke

Rauhnächte: 9. Rauhnacht Rot

Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit", recht unten eine 9
Grafik: Jana Jeworreck

CN: Mord, Blut, Tod durch Ertrinken, Tod durch Feuer

Strategema

In späteren Zeiten würde man ihre Existenz verleugnen, würde sie nur für eine Geschichte halten oder für einen falsch gelesenen Namen. Man nahm sie aus der Linie der Könige heraus und überließ sie dem ewigen Vergessen.
Doch niemand ist je vollständig vergessen. Eine jede hinterlässt irgendwo Spuren.

Sie trug den Namen Nitaqerti, Neith ist vortrefflich, benannt nach jener Göttin, die für das Leben und den Tod gleichermaßen stand. Und so verwundert es nicht, dass Leben und Tod sich auch im Schicksal der Nitaqerti eng verwoben.
Es begann mit dem Leben, in zweifacher Hinsicht. Als ihre Mutter niederkam, gebar sie nicht nur einen Sohn und Thronfolger, Merenre. Ihm folgte Nitaqerti ins Leben und im Leben, denn die zwei waren eins. Ein Geist, verteilt auf zwei Körper, unzertrennlich und untrennbar.

Als Merenre seinem Vater auf den Thron folgte, widersprach niemand, als Nitaqerti neben ihm Platz nahm, als gleichberechtigte Herrscherin an der Seite ihres Bruders. Niemand widersprach, doch viele zürnten insgeheim. Eine Frau auf dem heiligen Thron des Horus. Eine Frau, die über die zwei Länder herrschte. Eine Frau, die über die höchsten Beamten das Sagen hatte. Doch der Zorn richtete sich nicht gegen sie, schließlich war sie nur eine Frau und konnte somit ihr Schicksal nicht selbst bestimmen. Der Zorn richtete sich auf Merenre, den Sohn des Re, den von Binse und Biene, den guten Gott, der so gut nicht sein konnte, schließlich handelte er wider die Natur. Und so musste er weichen. Da er dies nicht freiwillig tat, schritten seine einstigen Getreuen eines Nachts zur Tat.

Nitaqerti schrie,

als der Körper, in dem der zweite Teil ihrer Seele gewohnt hatte, leblos in ihren Armen lag, als sein warmes Blut aus dem Schnitt an seinem Hals über ihre Hände ronn.
„Dies geschah im Namen der Götter“, murmelte der Hohepriester, als er sie von der anderen Hälfte ihres Selbsts wegzog. „Wir werden einen Nachfolger bestimmen, den du ehelichen wirst, um dann den dir zustehenden Platz einzunehmen.“
Nitaqerti ließ sich fortbringen, und die Leere in ihrem Inneren füllte sich mit einem heißen, brodelnden Zorn. Sie würde nicht das Spielzeug der Intrigen dieser Männer sein. Sie würde nicht als Schmuck an der Seite eines neuen Königs stehen. Sie würde ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Als die Priester und Adligen unter den Ihren einen Nachfolger gefunden hatten, und der Tag der Hochzeit und der Krönung anberaumt wurde, suchte Nitaqerti den Hohepriester auf und fiel vor ihm auf die Knie. Sie hob den Kopf und sah den wohlwollenden Blick, mit dem er sie betrachtete.
„Mir sei“, hauchte sie demütig, „ein Vorschlag gestattet. Lasst die Hochzeit in dem alten Saal im Osten des Palastes stattfinden. In jenem Saal, den mein Vater hat bauen lassen. Damit knüpft ihr an die glorreiche Zeit an und alles dazwischen ist …“, sie schwieg einen Moment, „… vergessen.“
Ein mildes Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, doch keine Erinnerung an den Zweck des Baus zeigte sich in seinen Augen. Er kannte diesen einen Gang nicht, der den Saal mit den Fluten des Nils verband und Nitaqerti verbarg ihr Strahlen und senkte den Kopf. Der Hohepriester legte Nitaqerti die Hand auf das Haar. „Du bist ein gutes Kind und wir werden alles auf den rechten Weg zurückleiten.“

Als Königsschmuck

sahen sie sie, und so schenkten sie Nitaqerti während der Feierlichkeiten keine Aufmerksamkeit. Sie war nur ihr Mittel zum Zweck, ihr Weg zur Macht. Niemand bemerkte, wie sie sich erhob, wie sie auf leisen Sohlen das Fest verließ, die Treppe hinaufstieg und die hohen Türen hinter sich schloss. Ihre treue Dienerin erwartete sie, wie sie es geplant hatten, und half ihr, den schweren Riegel zu platzieren.
Nitaqerti lehnte den Kopf gegen das mit Gold verzierte Ebenholz. „Geh“, drängte sie. „Geh und tu, worum ich dich gebeten hatte.“ Sie legte die Hände rechts und links auf die Türflügel und lauschte.

Nicht lange musste sie warten, bis sie das erste Plätschern hörte, das zu einem Rauschen anschwoll. Dann ertönten die ersten Schreie und sie spürte die Leiber, die auf der anderen Seite der Tür dagegendrückten. Sie fühlte das Beben des Holzes, als sie mit ihren Fäusten dagegen hieben. Das Wasser, das aus den Ritzen tropfte, benetzte ihr Kleid und ihre Füße. Schließlich Stille.
Als der heiße Zorn sich aus Nitaqertis Leib zurückzog, blieb dort nur noch Leere zurück.

Hoch erhobenen Hauptes schritt sie durch die Gänge des Palastes, schaute nicht rechts und nicht links. Ihr Leben war vorbei, sie starb in dem Moment, als der andere Teil ihrer Seele dahinging. Nun musste sie es nur noch zu Ende bringen.
Ihren Bruder hatten sie verscharrt und so gab es für sie nicht einmal die Hoffnung, ihn im Jenseits wiederzusehen. Ihrer beider Seele war tot und nur noch Nitaqertis Körper übrig.
Sie nahm die Fackel von der Wand, legte sich auf ihr Bett und ließ ihn vom brennenden Feuer verzehren.

Ein Beitrag von Roxane Bicker.

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