Tintenfass mit Feder, Schiftzug Nichts gegen Fantasy - warum Trivial kein Genre ist
Schicksalsstöcke

Nichts gegen Fantasy – Warum „Trivial“ kein Genre ist

Elfenritter, Drachenkrieger, bombastische Schlachten und mehr Kulisse als Handlung: ein Genre für Realitätsflüchtlinge.

Dieses Klischee von Fantasy-Romanen hält sich in vielen Köpfen hartnäckig. Fantasy hat heute eine riesige Fangemeinde. Trotzdem (oder deshalb?) wird dem Genre oft der Tiefgang abgesprochen. In diesem Artikel will ich mit einigen Vorurteilen aufräumen.

1) Über welches Genre reden wir eigentlich?

Ich habe irgendwann zu einem Trick gegriffen: Um Vorurteilen zu entgehen, nenne ich meine Bücher nicht mehr „Fantasy“, sondern „Fantastik“. Fantastik hat einen deutlich besseren Ruf als Fantasy. Warum? Keine Ahnung. Fantastik ist nämlich eigentlich nur ein Oberbegriff, der neben Fantasy alle weiteren Genre umfasst, die übernatürliche und wunderbare Elemente enthalten. Gemeint ist damit alles, was nicht in dieser uns bekannten Wirklichkeit auftreten kann. Auch die Science Fiction fällt unter den Schirm der Fantastik, obwohl viele Science Fiction-Romane auf naturwissenschaftlicher Basis funktionieren.

Unter Umständen lässt es sich so erklären, dass “Fantastik” ein besseres Image hat als “Fantasy”. Science Fiction gilt als weniger eskapistisch. Auch Märchen und Legenden, die ebenfalls zur Fantastik zählen, werden oft höher geschätzt als Fantasy und Horror. Auf diese Beobachtung werde ich noch eingehen. Hier sei erst einmal festgehalten: Wenn ein Name reicht, um den Blick auf ein Werk zu ändern, zeigt das doch, wie wackelig das Bild ist, das wir mit dem Namen assoziieren.

2) „Früher war alles besser“

Es war einmal ein armes Waisenkind, das hatte nichts außer die Kleider an seinem Leibe, aber es hatte ein Herz aus Gold …

Seien wir ehrlich: Wenn irgendetwas schablonenhaft und vorhersehbar ist, dann das Märchen. Wenn irgendetwas realitätsfern ist, dann die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts. Wenn es oberflächliche Figuren gibt, dann die Kraftprotze in Heldenepen.

Trotzdem gelten die Beispiele vielen als kulturell wertvoll. Auch von solchen Menschen, die Fantasy-Romane eher mit spitzen Fingern anfassen, werden sie geschätzt. Warum? Weil sie alt sind? Weil sie einen historischen Wert haben? Weil sie sich im Rückblick als prägend erwiesen haben? Nicht allen Heldenepen, Märchen und schon gar nicht der romantischen Literatur möchte ich grundsätzliche Oberflächlichkeit unterstellen. Dasselbe gilt jedoch für Fantasy-Romane. Ich erkenne keine Grundlage, die das rechtfertigt. Im Gegenteil: Fantasy Romane sind die Heldenepen, Legenden und Märchen unserer Gegenwart. Vielleicht erfreuen sie sich deshalb eines so großen Publikums. Märchen und Sagen waren immer Volkserzählungen.

Bei einigen Menschen habe ich jedoch den Eindruck, dass ihnen das Genre gerade aufgrund seiner Popularität suspekt ist. Eine Gattung, die von so vielen, auch “einfachen” Menschen zum Vergnügen gelesen wird, müsse entsprechend einfachen Inhalts sein. Dass ein solches Denken einer argumentativen Grundlage entbehrt, muss kaum erwähnt werden. 

3) „Die andere Fantasy“

Es stimmt, Fantasy kann dem Zweck bloßer Unterhaltung dienen. Aber sie kann noch mehr. Denn wie jedes Genre ist Fantasy vielfältig.

Allerdings habe ich hier eine sonderbare Erfahrung gemacht: Für einige Menschen scheint es „Fantasy“ und „die andere Fantasy“ zu geben. Unter „Fantasy“ fällt dabei grob gesagt alles, was dem Klischee entspricht: Böse Drachen. Elfenheere. Darklords. Schwert und Magie.

Nichts gegen altbewährte Motive, aber so funktioniert nur ein Bruchteil des sehr mannigfaltigen Genres. Was nicht dem klassischen Muster entspricht, wird zur „anderen Fantasy“ oder „besonderen Fantasy“. Das gilt insbesondere für das, was von den entsprechenden Personen als anspruchsvoll wahrgenommen wird.

Dadurch hat das Genre überhaupt keine Chance, seinen Ruf zu verbessern, weil Texte mit Tiefgang von „der Fantasy“ subtrahiert werden.

4) Fantasy und Philosophie

Was ist eigentlich Realität? Liegt Realität in der individuellen Wahrnehmung? Gibt es also ganz viele Realitäten? Ist das, was wir als materielle Realität wahrnehmen, nur die Oberflächenerscheinung einer abstrakten Wirklichkeit?

So wie sich die Science Fiction aus dem Spiel mit naturwissenschaftlichen Möglichkeiten speist, spielen viele Fantasyromane mit geisteswissenschaftlichen Möglichkeiten.

Der englische Schriftsteller Charles Williams hat einen ganzen Roman geschrieben, der auf Platons Ideenlehre fußt. Anklänge lassen sich auch bei dessen Freund C.S. Lewis, dem Autor der bekannten “Narnia”-Reihe, finden.

Werke der Fantastik können philosophische Ansätze an überzeichneten, bewusst lebensfremden und damit abstrahierten Beispielen verdeutlichen, um allgemeingültiger zu wirken. So wird etwa in „The Walking Dead“ zunehmend deutlich, daß nicht die Zombies, sondern die Menschen die eigentliche Bedrohung darstellen – was mit „homo homini lupus“ bereits vor über 2000 Jahren von Titus Maccius Plautus geäußert und vom englischen Staatstheoretiker und Philosophen Thomas Hobbes nochmals vertieft wurde. Der Comic bzw. die Serie ist in der Lage, diese These den Rezipient*innen langsam und methodisch nahezubringen. Gehüllt in den Mantel des Horrors, erreicht sie damit auch Personen, die sich sonst wenig mit Philosophie beschäftigen.

5) Fantasy und Gesellschaft

Fantastische Welten geben jenen, die sie erdacht haben, die größte künstlerische Freiheit. In fremden Welten lässt sich alles ausprobieren. Alternative Staatssysteme, Kulturen, Religionen …

Schon seit dem 16. Jahrhundert, als Thomas Morus sein Utopia verfaßte, ist die Fantastik ein etablierter und geeigneter Spielraum für alternative Gesellschaftsformen. Die Entwürfe von Gene Roddenberry (Star Trek) oder William Gibson (Cyberpunk) haben mehr als eine Generation dazu bewegt, deren Visionen mehr Wirklichkeit zu verleihen. Von den vier Matrix-Filmen bis zum aktuellen Megaprojekt Metaverse, das das Internet ablösen soll, geht all dies auf die Cyberpunk-Erzählungen von Gibson und seinen Epigonen zurück.

Auch Suzanne Collins überzeichnet in ihrer Trilogie „Die Tribute von Panem“ viele Phänomene der modernen Gesellschaft wie Castingshows, die hier zu tödlichen Gladiatorenkämpfen werden.

Wenn euch das Thema Fantastik und Philosophie interessiert, findet ihr hier einen Extra-Artikel dazu.

6) Fantasy und Psychologie

Fantastische Welten können auch innere Zustände darstellen. Insbesondere die Literatur der Romantik lässt ihre Figuren „Seelenlandschaften“ durchwandern. Die oft surreale Umgebung spiegelt dabei die Figur selber wider. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Novalis „Heinrich von Ofterdingen“. Auch die Kinder- und Jugendliteratur nutzt gerne Parallelwelten, um eine innere Entwicklung auf märchenhafte Weise zu illustrieren.Die ab 1960 aufkommende New Wave in der Science Fiction richtete sich oftmals mehr nach innen statt nach außen. Es ging dieser Strömung zunehmend um die Erforschung psychologischer Aspekte wie der Isolation in der Raumfahrt, das Anderssein von Aliens, die inneren Folgen übernatürlicher Fähigkeiten; all dies experimenteller und introspektiver als zuvor.

7) High Fantasy

Falls ich die High Fantasy durch Punkt 3) verunglimpft haben sollte: Entschuldigung. High Fantasy scheint immer noch als die „klassische Fantasy“ zu gelten. Zentrales Merkmal ist die magische, in sich abgeschlossene Welt. Folglich kreist die High Fantasy oft um den Weltenbau. Das nimmt ihr nicht den Wert. Im Gegenteil.

In seinem Aufsatz „on Fairy-Stories“ geht J.R.R Tolkien ausführlich auf das Wesen von Mythologie und fantastischen Geschichten ein. In der magischen Welt sieht er eine „Zweitschöpfung“. Der Eskapismus sei kein Defizit, sondern gerade die Qualität dieser Zweitschöpfung. Je plastischer und komplexer sie ausgebaut ist, desto eher wird sie als zweite Wirklichkeit akzeptiert. Allegorie lehnt Tolkien darum ausdrücklich für seine Werke ab.

Der Aufsatz mag eine individuelle Sichtweise darstellen, ist jedoch wissenschaftlich fundiert und hat insbesondere der weltenkonzentrierten High Fantasy eine theoretische Grundlage gegeben.

Fazit

Was ist eigentlich literarisch wertvoll? Realitätsbezug ist, wie die High Fantasy beweist, kein notwendiges Kriterium. Auch der Fantasy ihren Realitätsbezug abzusprechen, wäre jedoch falsch. Das zeigt wiederum der gesellschaftliche Bezug einiger Romane, der in Punkt 5) vorgestellt wurde. Das Fantasy-Multiversum hat tausend Dimensionen. Während sich die einen Romane als Sinnbild der Wirklichkeit verstehen, suchen andere in der Wirklichkeitsferne ihren Anspruch. Und manche suchen auch absichtsvoll gar keinen Anspruch. Fantasy ist eine Kategorie. Mehr nicht. Über Qualität sagt sie nichts aus. Und am Ende liegt Tiefgang wahrscheinlich weniger im Werk als in den Augen derer, die es lesen.

Mit ein bisschen Fantasie/y ist alles möglich.

Ein Beitrag von Artemis Lindewind und Diana Dessler

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