Schicksalsstöcke

Türchen 18: Dort draußen zur Weihnachtszeit (Luisa Ruthe)

Der Hall einer Kirchenglocke wird auf einer sanften Woge des Windes bis zu dir getragen. Du schaust auf und entdeckst den hohen Turm mit seinem Spitzdach nicht weit von dir. Ansonsten ist es überwiegend still um dich herum. Nicht einmal das Geräusch deiner eigenen Schritte dringt an deine Ohren. Dein Blick wandert weiter. Die hohen Häuser links und rechts von dir erheben sich dunkel, finsterer noch als der wolkenverhangene Nachthimmel. Dennoch wirken sie nicht bedrohlich. Dir gefallen solche Winterabende. Der Schnee liegt über den Dächern einiger Autos und bedeckt einen Teil des schmalen Gehwegs. Die feinen Flocken sinken noch immer anmutig auf den Boden herab. Gerade legt sich eine von ihnen direkt auf deine Nasenspitze. Vorsichtig nimmst du sie mit einem deiner Finger auf und betrachtest ihr Muster. Sie alle sind einzigartig, jede besitzt ein eigenes Aussehen. Und doch ist ihre Schönheit nicht von langer Dauer. Beinahe etwas wehmütig beobachtest du, wie sie von deiner Fingerspitze hinabfällt und unter den anderen verschwindet – unauffindbar.

Es sind Geräusche, welche deine Aufmerksamkeit auf sich ziehen: störend, als würden sie nicht dazugehören. Wie ein falsch gesetzter, dunkler Pinselstrich innerhalb eines großen, farbenfrohen Kunstwerks. Stimmen dringen an deine Ohren, gedämpft und dennoch deutlich. Du setzt deinen Weg einige Schritte fort, bis du vor einem Fenster stehst. Dort angekommen kannst du eine Frau und einen Mann miteinander streiten hören. Er wirft ihr vor, sie würde ihn zu sehr unter Druck setzen. Sie entgegnet, wenn er endlich eine bessere Arbeit fände, hätten sie sich längst eine größere Wohnung leisten können, in einem besseren Viertel als diesem. Diese Gegend sei nicht geeignet, um ein Kind großzuziehen. Während ihre Worte immer leiser werden, kannst du im flackernden Licht des Fernsehers erkennen, wie eine ihrer Hände sich auf ihren Bauch legt. Er schweigt für einen Moment, erklärt dann, flüsternd nur, dass er bereits alles täte, das in seiner Macht steht. 

Du lächelst. Sie sind ein schönes Paar, sorgen sich umeinander und um ihre Zukunft. Du weißt, dass du nicht der Richtige bist, um ihnen künftig helfen zu können, aber möglicherweise gelingt es dir, jetzt, in diesem Moment, etwas für sie zu tun.

Du schließt deine Augen, spürst eine angenehme Wärme in dir aufsteigen: Zufriedenheit, Geborgenheit – ein leichtes Kribbeln. Dann öffnest du sie wieder und blickst erneut durch das Fenster. Der Fernseher ist ausgeschaltet, dafür flackern seichte Flammen auf den Dochten eines Schwibbogens direkt vor dir. Auch die Holzpyramide auf dem kleinen Tisch beginnt langsam, sich zu drehen. Kleine Rehe stehen ruhig im Schnee, während sie an den schmalen Kerzen vorbeiziehen. Von irgendwo her erklingt leise eine Spieluhr. Die Melodie füllt das Wohnzimmer und beschert dir eine leichte Gänsehaut. Das sanfte Klingen lässt ein unscheinbares Glitzern in die Augen der beiden treten. Es senkt sich auf das Paar hinab wie eine warme Decke, als würde nur dieses Lied es vermögen, sie zu trösten. Sie wieder zu vereinen. Die beiden sehen sich lange an, bis er sie endlich in die Arme nimmt: eine versöhnliche, entschuldigende Umarmung. Und ein Versprechen, dass alles gut werden würde.  

Du setzt deinen Weg allmählich fort, weiter durch dunkle Gassen. Ein kalter Wind kommt auf, zieht sich durch die engen Straßen und an dir vorbei. Berührt dich jedoch nicht. Das leise Säuseln verstummt. Wieder erklingen die Kirchenglocken, dieses Mal jedoch in einiger Entfernung, seltsam dumpf. Ein pochendes Ziehen leitet dich, führt dich an eine breite Kreuzung. Hier triffst du auf andere, die, wie du, auf den Straßen dieser Stadt unterwegs sind. Sie jedoch scheinen in Eile, blicken hektisch nach links und rechts, ungeduldig in Richtung der Ampel. Ein rotes, stehendes Männchen leuchtet ihnen entgegen, scheint sie wie eine unsichtbare Mauer zurückzuhalten. 

Das Gebäude schräg hinter dir leuchtet in hellem Goldgelb. Kleine Tannenbäume und Zweige aus Licht ziehen sich in stummer Übereinkunft über die Fassade. Die Zeiger der großen Bahnhofsuhr rücken geräuschlos ein wenig vorwärts. In wenigen Minuten ist es neunzehn Uhr. Auf dem Land würden die meisten Geschäfte bereits schließen. In der Stadt allerdings scheinen die Menschen um diese Zeit erst wirklich wach zu werden. Das Zentrum füllt sich und irgendwo in nicht allzu weiter Ferne spielt Musik.

Eine Familie mit Kindern fällt dir auf, nur wenige Schritte von dir entfernt. Die Eltern halten jeweils einen Jungen von etwa vier Jahren an der Hand. Einer von ihnen wippt aufgeregt von den Zehenspitzen auf die Fersen und blickt mit strahlenden Augen auf die andere Seite der Straße. Seine blonden Haare schauen ein wenig unter der Wollmütze hervor. Sein Bruder dagegen wirkt ungewöhnlich blass. Beinahe so weiß wie der Schnee selbst. Seine Haltung ist weniger aufrecht und sein Atem geht etwas schwerer. Allgemein scheint er etwas kleiner zu sein. Die Mutter sieht sorgenvoll auf ihn hinab und fragt leise etwas. Der Junge schüttelt nur betreten den Kopf. Dann fällt sein Blick auf dich. Die blassen, blauen Augen wirken etwas trüb. Sie schimmern leicht, als sie dich wahrnehmen. Zögernd, beinahe schüchtern hebt der Kleine die freie Hand und ein roter Handschuh winkt dir zu. Die weiße Schneeflocke darauf erinnert dich an vorhin. Traurigkeit lässt dein Herz schwer werden, als du sein Lächeln sanft erwiderst. Du siehst die gleiche Trauer in seinen Augen, die schwache Gewissheit, den Schmerz. Aber auch den Mut, die Tapferkeit, dies alles zu ertragen. 

Als das leuchtende Männchen im unteren Kreis der Ampel sich ins Grün wandelt, verlierst du den kleinen Jungen aus dem Blick. Ein leichtes, schmerzhaftes Ziehen in deinem Brustkorb verspricht dir, dass du ihn bald wiedersehen wirst. Etwas daran zu ändern, liegt nicht mehr in deiner Macht. Du zögerst kurz, schließt dich dann der letzten Gruppe Menschen an, welche die Straße überquert. Die Schneeflocken fallen nun dichter. Sie bilden immer wieder einen durchscheinenden Teppich aus zarter Spitze auf dem Gemisch aus Salzwasser und Sand. Bis jemand hineintritt oder die zarten Muster verschmelzen. Blaurote Lichter leuchten nur wenige Meter entfernt, links und rechts der Straße. Du kannst dort Umrisse von Betonblöcken erkennen. Einige verloren scheinende Menschen in Uniform stehen neben ihren Autos und trinken Kaffee. 

Das Grün der Ampel wandelt sich zurück und helles Rot wirft seine Schatten über die nun wieder leere Straße. Du siehst auf. Die Gruppe von Menschen ist dir bereits etwas voraus, drängt sich durch einen schmalen Grünstreifen mit einigen, alten Bäumen. Ein wenig trostlos wiegen sich ihre kahlen Zweige im Wind. Du bleibst noch einen Moment auf dem Gehweg stehen. Vor dir erhebt sich ein Hotel, die braungelbe Fassade lässt die blau umrahmten Fenster besonders hervorstechen. Hinter einigen brennt Licht, die meisten allerdings sind dunkel. Langsam setzt auch du dich in Bewegung, das drängende Ziehen in deinem Brustkorb dirigiert dich genau ins bunte Zentrum.

Auf dem dunklen Pflasterstein spiegeln sich Lichter, so viele, dass man sie kaum zu zählen vermag. Der Geruch von Zimt und warmem Teig strömt dir entgegen. Menschen lachen, unterhalten sich. Sie stehen meist in kleinen Kreisen, die Blicke zueinander gerichtet. Oder aber auf die Tassen in ihren Händen, von denen heißer Dampf hinaufsteigt. Etliche Stände stehen dicht aneinandergedrängt, einer neben dem anderen. Von überall her kommen Gerüche, Stimmen, Geräusche. Irgendwo erklingt der verzweifelte Ruf eines Kindes. Du hebst den Blick, kannst jedoch über die meisten Köpfe nicht hinwegsehen. Du fühlst dich unwohl in dieser Masse von Menschen. Trotzdem möchtest du helfen. Als du dich an zwei älteren Herren vorbeischieben musst, lächelst du sie entschuldigend an, doch die beiden scheinen es nicht einmal bemerkt zu haben. 

Wenige Schritte vor dir erhebt sich ein mehrstöckiges Fahrgeschäft. Unter lauter, etwas blecherner Musik zieht eine Gruppe weißer Pferde an dir vorbei. Sie alle tragen bunte Sättel, traben im Gleichschritt voran. So majestätisch und dennoch wirken sie beinahe etwas traurig. Ein Löwe und ein Tiger reihen sich hinter ihnen ein. Jagen sie die Pferde? Oder laufen sie alle vor irgendetwas davon? Vielleicht vor den jauchzenden Kindern auf ihren Rücken? In monotoner Übereinkunft heben und senken sie sich, bis sie aus deinem Blickfeld verschwinden. Rechts neben dem Karussell stehen, wie überall rings herum, Eltern – Männer und Frauen, welche wohl darauf warten, dass ihre Kinder die Tiere verlassen und zu ihnen zurückkehren. 

Ein kleines Mädchen fällt dir jedoch auf. Es steht etwas abseits, nicht weit entfernt von einem der vielen Stände. Es blickt sich hektisch um und du kannst erkennen, dass Tränen in seinen Augen schimmern. Obwohl dieses Ziehen in deiner Brust dich in eine gänzlich andere Richtung lenkt, wendest du dich ihm zu. Du näherst dich langsam, um das Kind nicht zu verschrecken. Dennoch weiten sich die Augen der Kleinen ängstlich, als sie dich bemerkt. Du gehst seicht in die Hocke, um weniger bedrohlich zu wirken, lächelst ihr freundlich zu. Das dunkle Nussbraun glänzt noch immer von verzweifelten Tränen. Wie ein junges Reh sieht sie dich an, nicht sicher, was sie von dir halten soll. Sie wirkt so verloren inmitten der Masse von Menschen. Niemand von denen, welche eilig an ihr vorbeilaufen, scheint sich für sie zu interessieren.

Du schließt kurz deine Augen, lässt deine Sinne wandern. Es dauert nicht lange, da treffen sie auf die aufgewühlten Gedanken einer Frau. Sie sucht ihre Tochter und läuft panisch einen Stand nach dem anderen ab, fragt jeden Passanten, ob dieser ein kleines Mädchen alleine gesehen hätte. Lächelnd wendest du dich wieder dem Kind vor dir zu. Du bittest es mit einer leichten Geste darum, dir zu folgen. Zögernd kommt es dem nach. Menschen, besonders Kinder, folgen dir stets instinktiv. Ab und zu wirfst du einen Blick über deine Schulter, um dich zu vergewissern, dass die Kleine noch immer hinter dir ist. 

Du wählst den Weg rechts an den Massen vorbei, unter den Arkaden eines großen Kaufhauses entlang. Selbst eines der Restaurants hat einen eigenen Stand aufgebaut. Einige der Menschen, welche dort stehen, stechen deutlich heraus. Sie tragen Farben, die sich von den schwarzen und braunen Wintermänteln abheben. Lange, recht breite Schals. Bunt gemustert. Gerade, als du sie passierst, stimmt einer von ihnen lauthals ein Lied an: kein Weihnachtslied. Es passt nicht in diese Atmosphäre und doch gesellen sich etliche andere Stimmen dazu. Du versuchst, diesen Lärm so gut es geht auszublenden, siehst dich noch einmal nach dem Mädchen um und konzentrierst dich erneut auf die suchende Mutter.  Während von links her Gerüche nach Glühwein und Gebäck in deine Nase strömen, verleitet das unruhige Blinken bunter Lichterketten zu deiner Rechten dich zu schnellerem Gehen. Du fühlst dich innerhalb solcher Menschenmassen einfach nicht wohl, aber dir bleibt nichts anderes übrig.

Ein junger Mann steht nicht weit von dir, dort, wo sich die Häuserwand öffnet und den Blick auf einen kleinen Park freigibt. Die Gitarre in seiner Hand spielt eine seichte Melodie, seine Stimme trägt in angenehmer Harmonie ein besinnliches, ruhiges Lied hinaus in die kalte Winternacht. Hinter den dunklen Umrissen der Bäume erhebt sich eine alte Kirche. Die Glocken im Turm hüllen sich in Stille, die Zeiger der großen Uhr rücken auf eine volle Stunde vor. Eine Gruppe Musiker steht dort oben auf einer schmalen Aussichtsplattform. Ihre goldenen Instrumente kündigen mit festlichen Klängen an, dass eine neue Stunde beginnt. Dein Blick bleibt einen Moment lang an ihnen hängen, dann wendest du dich wieder dem Weg vor dir zu. 

Noch immer fallen sanfte Flocken vom Himmel, wirken im Licht der Straßenlaternen wie kleine, funkelnde Diamanten. Das Mädchen, welches noch immer hinter dir geht, sieht zu dir auf, als du dich zu ihm drehst. Eine feine, weiße Schicht Schnee hat sich auf seinen dunklen Haaren gebildet. Du lächelst ihm aufmunternd zu. Es ist nicht mehr weit. 

Ein Lächeln zeichnet sich auf deinen Lippen ab, als du einen Moment später stehen bleibst. Direkt vor dir kreuzen sich zwei schmale Straßen der Innenstadt, ein Hotel – hell erleuchtet – zu deiner Linken, der beinahe schon düstere Park zu deiner Rechten. Stände sind nur wenige Schritte weiter aufgebaut, Rücken an Rücken, als wollten sie sich gegenseitig wärmen oder aber einander Schutz bieten. Langsam lässt du deinen Blick wandern. So viele Menschen schieben sich auf der Kreuzung aneinander vorbei, etliche dunkle Wintermäntel schlucken das Licht der goldgelben Beleuchtung. Von irgendwo her erklingt leise Musik. Du hast es allein deinem guten Gehör zu verdanken, dass du die Rufe inmitten der Hunderten von Stimmen überhaupt wahrnimmst. Sie ist also noch hier. Das beruhigt dich ein Stück weit. So setzt du dich wieder in Bewegung, immer in Richtung dieser Rufe einer verzweifelten Mutter. Das kleine Mädchen folgt dir. Ihre Schritte hinterlassen seichte Spuren im beinahe bereits festgetretenen Neuschnee. 

Etwas abseits eines Standes entdeckst du sie dann endlich – eine noch recht junge Frau, die Arme um den zitternden Körper geschlungen, den Blick suchend hin und her werfend. Du bleibst stehen, als du bemerkst, dass die Kleine sie ebenfalls bereits gesehen hat. Ihre Augen schauen zu deinen auf – dankbar und ein Lächeln huscht wie ein helles Licht über ihr Gesicht. Du nickst ihr zu und deutest mit einer sanften Bewegung deines Kopfes an, dass sie gehen soll. Dann siehst du ihr nach, wie sie freudestrahlend auf die suchende Mutter zuläuft. Diese stürzt auf ihre Tochter zu, schließt sie fest in die Arme und drückt ihren kleinen Körper an sich. Dann streifen ihre von Tränen verhangenen Augen deinen Blick. Kurz – nur einen Moment lang – weiten sie sich erschrocken, schließen sich jedoch recht schnell. Vermutlich hat sie deinen Anblick bereits vergessen. Du wendest dich ab und folgst weiter diesem Ziehen in deiner Brust. Irgendwann wird sie dich erneut zu sehen bekommen und dann wird sie sich wieder erinnern. Dieser Tag würde kommen, doch du spürst, dass es gewiss nicht heute sein wird. 

Dein Weg führt dich abseits der bunten Stände und Geschäfte entlang. Hier, so nah und doch so weit entfernt, dass es beinahe düster erscheint, tut sich ein großer, leerer Platz auf. Einige dunkel gekleidete Gestalten huschen am Rande des hellen Pflastersteins entlang, hüten sich vor dem Licht der Laternen und verschwinden irgendwo in der dahinterliegenden Dunkelheit. Die kargen Zweige einiger Bäume wiegen sich leicht im Wind. Der Schneefall hat nachgelassen. Ein Blick gen Himmel bestätigt: Die letzten Wolken sind weitergezogen und geben damit den sternenübersäten Nachthimmel frei. Leider gelangt das Licht der unzähligen, kleinen Punkte nicht bis zu dir hindurch. Trotzdem ist der Anblick wunderschön. Du spürst, dass dieses Ziehen in deinem Inneren dich weiter in diese Dunkelheit geleitet. Was würdest du dort vorfinden? 

Es ist kaum vorstellbar, dass nur wenige Schritte von diesem tristen Ort entfernt Lichter blinken und Menschen miteinander lachen. Aus der Ferne hörst du die leise Musik, nimmst sie kaum noch wahr. Du entdeckst einige Bänke, welche den Platz begrenzen – ähnlich einer durchlässigen Mauer. Die Laternen werfen schimmerndes Halbdunkel auf die hölzernen Sitzflächen. Auf einer dieser Bänke erkennst du eine Silhouette, neben ihr steht ein Einkaufswagen. Dessen silbernes Gestell wirkt im dürftigen Licht beinahe wie ein Skelett – eine äußere Hülle ohne Inhalt, ein beinahe gespenstisches Bild. Du näherst dich langsam, spürst, wie das Ziehen sich merklich verstärkt. Bevor du die Bank jedoch erreichen kannst, lässt dich ein dunkles Geräusch innehalten.

Aus dem Schatten unterhalb der Bank heraus starren dich zwei Augen an – misstrauisch und abweisend. Es ist das Knurren eines großen Hundes, welches deine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. Langsam bewegt sich der dunkle Schatten. Die Umrisse von Fell – leicht verfilzt, aber dicht genug, um warm zu halten, klaren sich im Licht der nahestehenden Laterne auf. Es ist ein Schäferhund, der sich dir langsam nähert, geduckt und angespannt. Dennoch kommt er dir näher. Du lässt dich auf eines deiner Knie sinken und fängst den Blick des Tieres auf. Eines seiner Augen ist trüb, milchig. Einige graue Haare ziehen sich durch das teils schwarze, teils braune Fell. Das gesunde Auge nimmt dich gefangen. Du erkennst ein gewisses Misstrauen, Unsicherheit, aber auch ein instinktives Urvertrauen gegenüber dir in diesem dunklen Nussbraun. 

Langsam richtest du dich wieder auf, denn dieser Hund ist es nicht, wegen dem du hier bist. Der Grund für diesen Ruf, welchen du verspürt hast, liegt hinter ihm auf der Bank. Du betrachtest das fahle Gesicht des alten Mannes, der sich auf dem harten Holz niedergelegt hat. Die bereits zerschlissene Winterjacke mag ihn kaum warmhalten, dennoch zittert der Körper darin nicht. Du bemerkst den leichten Geruch von Schnaps, dessen unangenehmes Stechen in deiner Nase. Die Atemzüge des Mannes sind flach, sein Herz schlägt schwerfällig. Du schließt die Augen. Ein Wirbel von Farben umschließt dein Bewusstsein, strömt an dir vorbei, ohne dich mitzureißen. Schließlich entlässt er dich in triste Leere, Dunkelheit. Die Welt um dich herum dreht sich – langsam erst, dann schneller, bis Bilder vor dir auftauchen: 

Der gleiche Mann, wie er vor dir liegt, nur wesentlich jünger, ging an einem Winterabend wie diesem eine der unzähligen Straßen entlang. Ein leises Geräusch ließ ihn aufmerksam werden: Das Winseln eines jungen Hundes. Er fand den kleinen Schäferhundwelpen zwischen etlichen Müllbeuteln in einem dieser großen Container. Der Kleine besaß damals bereits lediglich ein gesundes Auge und wirkte so hilflos, dass er sich entschloss, ihn mitzunehmen, obwohl er selbst kaum etwas besaß. Von da an teilten sie sich über Jahre Essen und Schlafplatz, passten aufeinander auf und gaben einander Halt. Vor einer Weile jedoch war der nun alte Mann auf der Straße zusammengebrochen und ins Krankenhaus gebracht worden. Das Gesicht eines Arztes, dessen ernster Blick, als der Begriff eines streuenden Tumors fiel – er ließ seine Welt in sich zusammenstürzen. Einzig, um seinen treuen Wegbegleiter nicht allein zu lassen, verließ er das Krankenhaus. 

Du öffnest deine Augen wieder. Die Geschichte der beiden berührt dich zutiefst. Dennoch spürst du, dass die Zeit des Mannes nur noch begrenzt ist. Ein leises Winseln lässt dich zur Seite sehen. Dort sitzt der Schäferhund, den Blick des treuen, braunen Auges auf dich gerichtet: fragend, beinahe bittend. Du weißt genau, dass dieser Mann vor dir starke Schmerzen leiden wird – jedes Mal, wenn er aufwacht. Du weißt, dass er elendig zugrunde gehen, vielleicht irgendwann auf einer dieser Bänke erfrieren würde. Helfen kannst du ihm nicht, es ist zu spät. Es liegt nicht in deiner Macht, ein solches Schicksal abzuwenden. Bereits, bevor du dich endgültig bewusst entscheidest, weißt du, wie deine Entscheidung ausfallen wird. Dieser Mann hat dich stumm um Hilfe gebeten, selbst sein treuer Begleiter scheint dies zu spüren. Du atmest noch einmal tief durch und trittst näher heran.

Deine Hand streckt sich aus, langsam, zunächst zögernd. Dann legst du sie auf die Schulter des Schlafenden. Eine beklemmende Kälte kriecht deinen Arm empor und lässt dich zittern. Dennoch konzentrierst du dich, entschlossen, alles zu tun, was dir möglich ist. Deine Augen schließen sich, während eine wohlige Wärme in deiner Brust aufsteigt, sich in deinem Körper ausbreitet und somit auch diese Kälte vertreibt. Diese Wärme fließt über deine Handfläche und als du dies spürst, heben sich deine Augenlider erneut. 

Ein heller Schimmer – ähnlich der golden scheinenden Flamme einer Kerze – bildet sich auf der Haut des Mannes. Dieser Schimmer wandelt sich allmählich in ein Leuchten – so hell wie Tausende, ein Meer von Kerzen. Er löst sich von der Silhouette des schlafend Scheinenden, wandelt sich zu einer Gestalt aus Licht. Du meinst, für einen Moment ein Lächeln in ihrem Gesicht wahrzunehmen, bevor sie sich auflöst, zu einem Wirbel aus Licht wird, der glitzert und strahlt wie funkelnde Diamanten. Dann schießt sie wie ein Lichtstrahl hinauf zum Himmel, um dort letztendlich in weiter Ferne zurückzubleiben – als einer dieser unzähligen, hellen Sterne. 

Ein leises Seufzen verlässt deine Lippen, Erschöpfung macht sich in deinen Gliedern bemerkbar, ebenso allerdings in deinem Geist. Trotzdem stehst du nicht im gleichen Halbdunklen wie zuvor. Etwas strahlt ebenfalls dieses gleißende, wunderschöne warme Licht aus. Ein Blick nach unten zeigt dir, dass der treue Begleiter des

Mannes sich erhoben hat, hinauf zum Himmel sieht. Dessen Fell schimmert in sanftem Gold, ein letzter Blick streift den deinen, dann verschwimmt auch die Gestalt des alten Schäferhundes zu einem Wirbel aus Licht. Die funkelnden Diamanten umkreisen dich – eine kurze Geste tiefer Dankbarkeit, bis auch dieser helle Strahl gen Himmel strebt. 

Ein Lächeln legt sich auf deine Gesichtszüge. Dieses Ziehen in deinem Inneren ist verschwunden, lässt lediglich eine gähnende, triste Leere zurück. Doch du kennst dieses Gefühl bereits, es begleitet dich, solange du denken kannst. Deine rechte Hand legt sich auf die Stelle, unter welcher dein Herz schlägt: schwermütig und dennoch kräftig genug, um noch vielen zu helfen, die deine Hilfe benötigen. Du allein bist für jeden da – ob jung oder alt, arm oder reich. All ihre Wege werden einmal den deinen kreuzen. Und wenn es soweit ist, wirst du bereit sein. Du richtest deinen Blick ein letztes Mal hinauf zum Himmel über dir, dann umschließt dich Dunkelheit. Einen Moment später bist du verschwunden. Der gepflasterte Platz bleibt dunkel und leer zurück. Der seichte Wind lässt einige einsame Schneeflocken tanzend herniedergehen. Es scheint, als wärst du niemals dort gewesen. 

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
1 Kommentar
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Bianca Grätz
Bianca Grätz
4 Jahre zuvor

Dankeschön für diese zauberhafte und wunderschöne Geschichte. Ich umarme jetzt erstmal weinend meinen Hund….