Bücher und Landkarten
Schicksalsstöcke

Die Magie der Orte

Ein markantes Kennzeichen der Fantastik ist der Weltenbau. Neue und bislang unbekannte Orte bilden den Hintergrund der Handlung und verleihen ihr einen besseren Kontext. Etliche Werke gehen so weit, dass deren Erforschung sowie möglichst genaue Darstellung und Erklärung einen bedeutenden Teil der Geschichte ausmachen. 

Auf diese Weise erhalten nicht nur die Figuren der Story, sondern auch die vorgestellte Welt einen eigenen Charakter, an den sich die Lesenden gerne erinnern und dazu hingezogen fühlen. Denn jede erdachte Welt ist eine Ergänzung oder ein Gegenentwurf zu unser eigenen – und je komplexer und glaubhafter sie wirkt, desto mehr lädt sie dazu ein, sich gedanklich mit ihr zu beschäftigen, ihre Machbarkeit zu durchdenken oder ihre Konsequenzen zu beurteilen. 

Schon eines der allerersten fantastischen Werke, „Utopia“ von Thomas Morus, beschrieb 1516 einen Gegenentwurf zum damaligen England und legte damit die Grundlage zum Genre der Sozialutopie. Die Idee, es könne einen „besseren Ort“ geben, der vernünftiger und gerechter ist als die aktuelle Welt, zieht sich von diesem Werk bis hin zu Star Trek. 

Auf der anderen Seite sind Dystopien entstanden, die einerseits vor negativen Entwicklungen warnen, jedoch innerhalb ihrer desolaten Welt auch neue Möglichkeiten der Selbstentfaltung bieten (zum Beispiel: wie geht man vor, wenn es keine Gesetze mehr gibt?) und die Frage nach den eigenen Werten stellt. Heutzutage sind etwa Serien oder Spiele mit dem Thema der Zombie-Apokalypse beliebt. Man findet darin Abenteuer- und Survivalelemente, Action und Gesellschaftskritik. Trotz des niederschmetternden Zustands jener Welten gewähren sie durch ihre Open-World-Struktur viele Freiheiten und eine gewisse Autarkie, indem sie es den Nutzer:innen überlassen, wie sie vorgehen wollen und was sie erreichen können. Das macht selbst apokalyptische Welten für viele reizvoll.

Umso mehr gilt dies jedoch für „schöne“ Welten, die schon durch ihre Ästhetik bestechen. Dazu zählen das Nimmerland, Narnia, Mittelerde (vor allem Lothlorien), aber auch das Los Angeles aus „Blade Runner“, Coruscant und Naboo aus „Star Wars“, Hyrule aus „Zelda“, Nirn aus „The Elder Scrolls“, Pandora aus „Avatar“… und Hogwarts aus der „Harry Potter“-Serie.

Obwohl man die Autorin zu Recht wegen ihrer transfeindlichen Ansichten kritisieren muss, ist Hogwarts dennoch ein Beispiel für ein immens erfolgreiches Konstrukt eines Ortes, der Leser:innen bezaubert und zugleich die Sehnsucht auslöst, dorthin zu gelangen. Stellvertretend dafür nur ein Beispiel: https://happytowander.com/where-is-hogwarts-located/

Dass Konsumierende von Büchern, Filmen und Serien eine so starke Verbundenheit zu den Schauplätzen finden, dass sie selbige aufsuchen möchten, ist nichts Neues. Schon 1984 sind viele Leute ins Glottertal gepilgert, um dort die „Schwarzwaldklinik“ wiederzufinden. Es gibt Personen, welche die Drehorte von James-Bond-Filmen als Urlaubsziel auswählen. Die drei „Herr der Ringe“-Filme haben den Tourismus in Neuseeland angekurbelt. Etliche Filmstudios bieten aus gutem Grund Besichtigungen der Kulissen (oder Nachbauten der Kulissen) ihrer Erfolgsfilme an. Und seit den Achtzigern wird auch Tunesien immer wieder von Star-Wars-Fans aufgesucht, die dort Spuren von Tatooine suchen und zum Teil die unveränderten Bauten aus dem Film von 1977 wiederfinden.

Da neue Orte Teil des Gesamtwerkes sind, entsteht oft der Wunsch, ihn weiter zu vermarkten. Für die Industrie ist es eine finanziell recht sichere Sache, auf der Basis eines bereits erfolgreichen Werkes zu arbeiten, weil es schon eine Zielgruppe gibt, die gezeigt hat, dass sie bereit ist, Geld dafür auszugeben und ggf. Merchandise zu erwerben.
Das bringt uns zurück zu Hogwarts – natürlich haben auch die Warner Bros Studios auf das Interesse der Fans reagiert und in Leavesden Sets und Props zugänglich gemacht. Die Universal Studios haben mit der „Wizarding World of Harry Potter“ nachgezogen.

All das würde nicht als stetige Einnahmequelle funktionieren, wenn es nicht die Sehnsucht der Lesenden nach der Magie der Orte gäbe – wobei „Magie“ hier nicht die Zauberei der Filmfiguren meint, sondern den Zauber, den das Franchise durch seine atmosphärische Vermittlung von Bildern ausübt. Ob die Bilder durch eindringliche Beschreibung in den Büchern, dann in Köpfen der Leser:innen entstehen oder durch konkrete Darstellung in Zeichnungen oder Filmsequenzen, ist unwichtig. Auf jeden Fall entsteht eine Bindung, ein Wunsch, Teil von diesem Ort zu werden, welcher die gesamte Handlung umfasst und zum Symbol der geschilderten Welt wird. So werden diese ausgezeichneten Orte, die sich durch ihre starke Wirkung in die kulturelle Wahrnehmung einbrennen, auch als ikonisch bezeichnet.

Dies geschieht am deutlichsten in der Fantastik, weil sie nicht behauptet, in unserer vertrauten Welt zu spielen. Vielleicht ist die neu erschaffene Welt unserer ähnlich, vielleicht handelt es sich um eine nahe Zukunft, die sich noch wenig von der Gegenwart unterscheidet – aber man muss dazusagen, dass gerade die erfolgreichsten erschaffenen Welten diejenigen sind, welche gravierend Neues, Ungewöhnliches, Sehenswertes bieten. 

Hier möchte ich noch einmal an die Welt Pandora aus „Avatar“ erinnern. Der Film war überwältigend erfolgreich. Nicht wegen der Story, die im Kern eine moderne Variante von „Pocahontas“ war, sondern wegen der unglaublichen Schauwerte und der akribisch ausgearbeiteten Details. Der Nachfolger hat dies aufgegriffen und mit Hilfe der inzwischen verfügbaren Technik noch einmal vorangetrieben.
Daneben gibt es Welten, die Fiktion und Wirklichkeit so geschickt vermischen, dass die Grenzen fließend zu sein scheinen, und das schafft seinen ganz eigenen Reiz. Beides erfordert einen beträchtlichen Aufwand – nicht erst bei den Bauten, Kostümen und der Tricktechnik, sondern bereits bei der Vorlage.

Gerade wenn man die großen Franchises des Genres betrachtet (Herr der Ringe/Der Hobbit, Avatar, Harry Potter, Star Wars, Star Trek, Marvel MCU), dann bemerkt man dort die außergewöhnliche Detailfülle. Sie ist es, welche die vorgestellten Orte den Zuschauenden näherbringt und glaubhaft macht. Denn unser Unterbewusstsein ist immer noch alttestamentarisch eingestellt und sagt sich: „Wenn ich es genau gesehen habe, dann muss es ja auch wahr sein.“

Inzwischen wissen wir längst, dass man mit Tricktechniken alles, was man sich vorstellen kann, auch beliebig glaubhaft darstellen kann. Es ist nur eine Frage des Aufwands. KI hat das Verfahren nur noch einmal beschleunigt.

Aber darum geht es nicht. Es ist einfach menschlich, sich zu Elementen hingezogen zu fühlen, die einen begeistern – auch wenn man weiß, dass sie fiktiv sind. Der nächste simple Schritt ist, mehr davon zu wollen. (Und wenn es nicht mehr gibt, dann macht man es halt selbst, wie man an Fanfiction sehen kann.)

Doch während die Handlung längst auserzählt ist und die Schauspieler:innen der Filme  in neuen Rollen in anderen Werken auftreten, bleiben die Orte bestehen, ob als Konzept oder Schauplatz. Das macht sie für viele weiterhin interessant.

Und für etliche Fans ist es die Krönung, die Identifikation mittels Cosplay weiterzuführen und sich darin an den „magischen Orten“ zu fotografieren. Viel näher kommt man nicht in die Vorlage.

Oder? Seit es Computerspiele gibt, besteht oft die Möglichkeit, einen Teil oder eine Variante der Handlung der Vorlage darin nach- oder mitzuerleben. Die Wikipedia listet alleine für Star Wars und Star Trek jeweils Dutzende an Spielen auf. Sie bieten meist die Möglichkeit, den Actionteil zu erleben, aber etliche bringen Spieler:innen auch zu den vertrauten Orten, die ggf. sogar noch detaillierter vorgestellt werden können.

Bleiben wir beim obigen Beispiel, versetzt „Hogwarts: Legacy“ einen in die titelgebende Zauberschule, die man ausgiebig erkunden und dort interaktive Abenteuer erleben kann. Es gibt unzählige Rollen- oder Abenteuerspiele für alle Plattformen, aber dieses Spiel gewinnt seinen Reiz eben aus der Möglichkeit, das beliebte Potter-Universum mit seinem magischen Primär-Ort aufzusuchen. Und selbst wenn man nur virtuell über die Stufen läuft, die Zimmer und Säle aufsucht, die Umgebung erkundet, bedient es ein wenig die Sehnsucht nach dem Ort, den man bislang nur als passive:r Zuschauer:in betrachten konnte, auf neue und aufregendere Weise. Es bringt einen mitten ins Geschehen.

Man würde sich nicht all diesen Aufwand machen, die Orte zu erleben, ihnen nahe zu sein, wenn nicht die erwähnte Sehnsucht dahinterstecken würde: nach einem spannenderen, schöneren und irgendwie besseren Ort, der es wirklich wert ist, ihn aufzusuchen. Letztlich ist das wie eine Reise – und gemessen an echten Reisekosten ist ein Buch, ein Kinoticket oder selbst ein Videospiel immer noch lächerlich günstig.

Als Autor:innen erschaffen wir in der Fantastik also nicht nur Welten, um den Charakteren der Handlung einen Kontext zu geben, sondern auch, um den Lesenden ein neues Reiseziel zu geben, einen Ort, in den sie sich projizieren können. Vielleicht um Seite an Seite mit ihren Held:innen zu streiten; vielleicht auch nur, um eine wunderbare und reichhaltige Welt erkunden zu können. Wir wissen es nicht. Aber wir erschaffen die Orte, damit sie die Wahl haben.

Die Spielefirma Origin Systems hat das früh verstanden – ihr Slogan „We Create Worlds“ war das Motto, das die berühmte Ultima-Serie antrieb und in „Ultima Online“ mündete, eines der ersten bedeutenden MMO-Spiele der Welt. Es war ein Meilenstein des Genres. Und wie bei den oben angeführten Beispielen lag auch hier ein wichtiger Schwerpunkt bei ausgefeilten Plots und großer Liebe zum Detail.

Die Bedeutung der Orte wird auch im Vorspann der Serie „Game of Thrones“ deutlich, der schließlich allein aus einer ausführlichen Fahrt über eine lebendige Karte besteht. So schufen die Filmemachenden zugleich Orientierung und Wiedererkennung, was bei der Komplexität des Plots sehr nützlich ist. Aber eine derartige Orientierung ist kein neuer Bestandteil, der erst durch filmische Umsetzungen entstanden ist. Einerseits verfügen seit Jahrzehnten sehr viele Fantasybücher über Kartenmaterial, im Anhang oder gleich ganz vorne. Das hat Tradition und ist angesichts der oft umfangreichen Reisen der Protagonist:innen auch sehr nützlich. Andererseits gab es schon 1981 den dreibändigen Reiseführer „Von Atlantis bis Utopia“ von Alberto Manguel und Gianni Guadalupi.

Die großartigen Welten unserer Phantasie werden jedoch nicht immer nur als Kontext, Projektionsfläche, Wanderkarte, Reiseführer und Wunschheimat verwendet – sie dienen bisweilen auch als Bauplan, und zwar für Cosplayer:innen, Liverollenspieler:innen, Ingenieur:innen, Softwareentwickler:innen, Designer:innen und viele mehr. Es ist bekannt, dass Star Trek viele Personen inspirierte, sich mit der Weltraumforschung zu beschäftigen, Objekte aus der Serie als Modell zu bauen und an der Umsetzung der dort gezeigten Technologien zu arbeiten. Beispiele sind die 3.5-Zoll-Diskette, die verblüffend den Datenmodulen ähnelt, welche in ein Datenwiedergabegerät der Classic-Serie eingelegt wurden, und ein „Klapphandy“ von Motorola – das sogar unter dem Namen „StarTac“ auf den Markt kam – sowie Tablets, die man schon in ähnlicher Form als „PADD“ in „The Next Generation“ gesehen hatte. „Indiana Jones“ hat hingegen zumindest etliche Personen dazu gebracht, sich beruflich der Archäologie zuzuwenden. Die „Dream Park Corporation“ versuchte Mitte der 90er Jahre, die Inhalte aus den Dream-Park-Büchern von Larry Niven und Steven Barnes als großen Theme Park umzusetzen. Sie konnte einen Teil davon bauen und testen, scheiterte jedoch letztlich an den Kosten. Das Spiel „Oasis VR“ beruht auf Konzepten aus dem Buch (und späteren Film) „Ready Player One“ (2011) von Ernest Cline. Dort ist die „Oasis“ ein permanenter „Ort“, an dem man sich virtuell aufhalten, Abenteuer erleben, mit anderen austauschen, aber auch lernen kann.

Indem wir solche Orte erschaffen, legen wir die Grundlage für zahlreiche Ansätze der Auseinandersetzung mit dem Werk, seinen Bedeutungen und seinen denkbaren Verwirklichungen. All diese Konkretisierungen wären nicht eingetreten, wenn der geschilderte Ort nicht magisch und wunderbar zugleich wäre, wenn er nicht die Sehnsucht auslösen würde, dort zu sein oder ihn irgendwie hierher zu bringen.

Das kann ein zweischneidiges Schwert sein. Denn was für eine:n ein großer Reiz ist, ist für andere vielleicht abschreckend. Zum Beispiel sind die Cyberpunk-Romane von William Gibson letztlich Dystopien und haben zumindest in Teilen einen warnenden Charakter. Dennoch war seine Schilderung des Cyberspace dermaßen attraktiv, dass Verfilmungen („Johnny Mnemonic“), Rollenspiele (Cyberpunk 2020, Shadowrun) und Computerspiele (Cyberpunk 2077) nachfolgten, und auch die gesamte Matrix-Serie (unter demselben Hauptdarsteller wie „Johnny Mnemonic“) mit ihrer fortschrittlichen Technik und prägenden Mode basiert sehr auf jenen Konzepten.

Der Ort ist also in der Fantastik ein eminent wichtiger Bestandteil. Er mag nicht immer der Ausgangspunkt sein, aber je größer die Gesamtkonstruktion von Handlung, Figuren, Vorgeschichte, Gesellschaft, Technik/Magie und weiteren Rahmenelementen wird, desto mehr rücken auch die Orte, an denen all dies realisiert wird, in den Vordergrund. Nicht umsonst sind viele Erzählungen der Fantastik Reiseerzählungen, in denen eine Gruppe bestimmter Personen zu einem bedeutsamen Ort reist, um dort etwas zu erledigen. Die Handlung wird zur Erkundung einer Kette von Orten, was gleichzeitig für eine klare Chronologie und weiterführende Motivation sorgt. Es lohnt sich daher, sie gut zu planen und mit angemessenem Detailreichtum zu beschreiben.

Die Kunst dabei ist allerdings, dies nicht in seitenlangen ermüdenden Aufzählungen aller Kleinigkeiten durchzuführen, sondern gezielt dort einzustreuen, wo es hinpasst, und aufgeteilt in zahlreiche „gut verdauliche“ Abschnitte, die den Fluss der Handlung nicht unterbrechen.

Kurz gesagt: die Details sind wünschenswert, aber man darf sie den Leser:innen nicht mit einer Schubkarre vor die Füße kippen („Infodump“), und erst recht nicht, wenn keiner der Charaktere gerade Zeit und Gelegenheit dafür hat, die Landschaft zu bewundern.

Doch wenn es gelingt … wenn man das richtige Maß findet … hat man einen wunderbaren Ort erschaffen, an den sich die Lesenden noch lange und gerne erinnern.

Diana Dessler

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