Schicksalsstöcke

01.12. Mit Händen und Füßen (Britta Redweik)

Die kleine Meerjungfrau seufzte schwer. Sie hatte sich verliebt, doch ausgerechnet in einen Menschenprinzen. Er war bei Sturm ins Wasser gefallen und sie hatte, entgegen allen Regeln, sein Leben gerettet. Doch nichts als Kummer hatte ihr das gebracht, denn wie sollte ein Wesen des Wassers denn mit einem des Landes glücklich werden?

In ihrem Liebeskummer ging sie zur Meerhexe. In allen sieben Weltmeeren war die Hexe als böse, hinterlistige Zauberin, die nur ihr eigenes Wohl im Sinn hatte, verschrien. Doch die kleine Meerjungfrau konnte den Prinzen einfach nicht vergessen und wusste keinen anderen Ausweg mehr.

„Natürlich kann ich dir helfen“, versicherte die Meerhexe. „Aber jede Magie hat ihren Preis. Nie wieder kannst du unter deinesgleichen sein. Und verliebt er sich nicht in dich, sondern in einen Menschen, gehört dein Leben mir.“

Die kleine Meerjungfrau sprach nicht aus, dass sie ihr Leben dann eh nicht wollte. Das war ein zu drastischer Gedanke, angetrieben vom Feuer der Jugend, das wusste sie selbst.

„Und noch etwas. Deine Stimme wirst du verlieren.“

„Wie meinst du das?“, fragte die Meerjungfrau nach.

„Wenn du ein Mensch wirst, bleibt dein schönes Stimmchen bei mir. Als Pfand. Verliebt der Prinz sich in dich, obwohl du ihn nicht sagen kannst, dass du ihn gerettet hast, gehört dein Leben weiter dir und deine Stimme soll wieder dein sein.“

Die kleine Meerjungfrau zögerte. „Darf ich darüber nachdenken?“

Die Meerhexe schien enttäuscht, nickte aber. „Beeile dich aber. Nur einmal im Jahr blüht die Alge, die ich für diesen Trank brauche. Entscheidest du dich nicht bis Sonnenaufgang, musst du ein ganzes Jahr warten.“

Die kleine Meerjungfrau schwamm, so schnell sie nur konnte, an die Oberfläche. Sie wollte den Prinzen sehen und sich erst dann entscheiden.

Weit genug weg, um nicht erkannt zu werden, robbte sie auf eine Sandbank und blickte gedankenverloren zu seinem Schloss am Ufer.

„Ach, wüsste ich nur, was ich tun soll“, sagte sie zu sich selbst. „Sicher kann man sich in jemanden verlieben, ohne mit ihm zu reden. Aber ihn kennenlernen? Und jemandem sein Leben zu versprechen, den man nicht kennt, ist doch ziemlich dumm. Ohne Stimme, wie weiß ich dann, dass er mich nicht nur wegen meines Aussehens liebt?“

Etwas landete neben ihr auf die Sandbank. Es war eine der Möwen, die über ihr kreisten. Diese schaute die Meerjungfrau schief an. „Aber man kann doch auch ohne Stimme reden“, wandte diese ein.

„Wie das?“

„Na, kennst du denn die Handsprache der Menschen nicht?“

Die Meerjungfrau schüttelte den Kopf.

„Komm mit, ich zeig sie dir“, sagte die Möwe und flog in Richtung einer Bucht etwas weiter die Küste.

Die kleine Meerjungfrau folgte ihr, so schnell sie konnte, und bald kamen sie zu einem einfach aussehenden Gebäude. Davor standen zwei Menschen, eine Mutter und ein Kind, die wild mit den Händen fuchtelten. Die Mutter sprach dabei, das Kind aber blieb stumm.

„Er kann nicht sprechen und nicht hören Daher hat seine Mutter ihm beigebracht, die Hände zu nutzen.“

„Und warum spricht sie dabei?“, fragte die Meerjungfrau.

„Ich glaube, für sie ist es so leichter, um nicht den Faden zu verlieren.“ Die Möwe zuckte mit ihren Flügeln. Dann verabschiedete sie sich.

Die kleine Meerjungfrau nickte dem Vogel geistesabwesend zu, als dieser losflog, dann traf sie eine Entscheidung. Wenn das zwischen ihr und dem Prinzen wirklich Liebe werden sollte, konnte sie ein Jahr auf ihn warten. In der Zeit wollte sie lernen.

Ein Jahr später hatte er, zu ihrem Glück, noch immer niemanden an seiner Seite. So kam die Meerjungfrau wieder zur Meerhexe und ließ sich den Trank brauen.

Auf schnellstem Wege schwamm sie anschließend zum Schloss des Prinzen und krabbelte an Land. Jetzt trank sie das Gebräu und schon durchfuhr sie ein Schmerz, den sie so noch nie gespürt hatte. Als sie aber an sich herabblickte, sah sie Beine. Ihr Fischschwanz war verschwunden.

Sie versuchte, sich aufzurappeln, doch ihre neuen Glieder wollten ihr noch nicht gehorchen. Also fiel sie wieder in den Sand und schürfte sich die Haut an Knie und Handballen auf. Doch nach Hilfe rufen, konnte sie nicht.

Erst nach Stunden, fand der Prinz sie. Er kehrte von einem Ausritt heim, als er das völlig verfrorene Mädchen sah.

„Habe ich dich nicht schon einmal gesehen?“, fragte er.

Sie aber öffnete nur den Mund und brachte doch keinen Ton heraus. Dann besann sie sich auf ihre Hände. Obwohl sie doch weh taten, gestikulierte sie den Satz, den sie ihm all die Zeit hatte sagen wollen: „Ich habe dich einst gerettet, als du vom Schiff fielst, und kann dich seitdem nicht vergessen.“

Der Prinz riss die Augen auf. „Du kannst gebärden?“, fragte er zurück, mit Wort und Hand.

Die Meerjungfrau nickte. „Du aber auch?“

„Meine Mutter ist im Alter taub geworden“, erklärte der Prinz.

Er brachte sie ins Schloss, wo sie als seine Retterin ein Heim fand und über die Monate lernten sie einander kennen, bis er vor ihr auf die Knie ging und ihr seine Liebe gestand.

Am Tag der Hochzeit aber zogen dunkle Wolken auf.

Gerade, als Braut und Bräutigam am Altar standen, kam die Meerhexe auf ihren Tentakeln hereingerutscht, um über das Geschäft zu reden. Als sie sah, wie die beiden mit Gesten kommunizierten, schäumte sie vor Wut.

„Du hast mich betrogen, Prinzesschen. Nun soll deine Seele auf ewig mir gehören“, kreischte sie.

Doch der Prinz war schneller als die acht Tentakeln. Geschwind hatte er sein Schwert gezogen und es der Zauberin in die Brust gestoßen.

„Niemand bedroht meine Frau“, sagte er ruhig. Dann wandte er sich an seine junge Frau: „Mir scheint, du hast einiges zu erklären.“

Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Stimme schien durch den Tod der Hexe auf ewig verloren. Aber sie hatte jetzt so lange gebärdet, dass es sie nicht mehr störte. Und auch der Prinz, der sie so kennen gelernt hatte, vermisste die Stimme seiner Frau nicht.

Als er erfuhr, was sie alles für ihn aufgegeben hatte, fühlte er sich schuldig und dankbar zugleich. Letztlich überwog aber die Freude, eine solch mutige, entschlossene Frau an seiner Seite zu wissen.

Diese Geschichte ist Teil des Nornen-Adventskalenders 2019 und stammt aus der Feder von Britta Redweik. Ihr findet jeden Tag auf einem anderen unserer Kanäle (Blog, Instagram, Facebook) ein Türchen. Viel Spaß.

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