Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit"
Schicksalsstöcke

Rauhnächte: 4. Rauhnacht Grau

Seifenblase mit Regebogenfarben, "Rauhnächte- Bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit" Rauhnacht 4
Grafik: Jana Jeworreck

Der Faun und die Hütte

Es war einmal ein Faun, der lebte in den Wäldern und hielt sich von den Menschen fern, so gut es ging. Das waren andere Zeiten, und es war noch möglich, unbehelligt tagelang durch die Natur zu streifen, ohne einer getauften Seele zu begegnen. Im Sommer streifte er durch die schattigen Kathedralen der Buchen und sammelte alles, was essbar war. Im Winter beobachtete er von den Berggipfeln aus die eisige Weite, dicht in seinen kuscheligen grauen Pelzmantel gehüllt. Er genoss es, im fahlen Winterlicht unter den kahlen Zweigen zu laufen, bis sein Körper dampfte, oder tief in seine Kapuze gemummelt durch knietiefen Schnee zu stapfen. Ab und zu spielte er trotz der Kälte auf seiner Flöte, und die aufgeplusterten Vögel auf den kahlen schwarzen Ästen antworteten ihm mit ihrem Lied. 

Eines klaren Wintertages packte der Faun etwas Proviant ein und folgte einem eisverkrusteten Bach, dessen Ufer glitzerten, als seien sie mit Diamanten überzogen. Über dieses wunderbare Schauspiel vergaß er den Stand der Sonne, bis das Glitzern erstarb und er sich in der Dämmerung in einem ihm unbekannten Tal wiederfand. Ein scharfer Wind schnitt zwischen den Baumstämmen hindurch und ließ ihn sogar in seinem Pelzmantel frösteln. Die Kälte brannte in seinem Gesicht. Dann begann es zu schneien.  

Was sollte er tun? Er war weit von seiner Höhle entfernt – viel zu weit, um es bei diesem Wetter nach Hause zu schaffen. Kaum konnte er die Hand vor Augen sehen. 

Nun hatte der Faun sich die meiste Zeit seines Lebens von den Menschen ferngehalten, aber als er jetzt Rauch erschnupperte, folgte er dem Geruch bis zum Rand einer Lichtung. Vielleicht konnte er sich für die Nacht in einem Schuppen oder Stall geschützt einrichten und auf den Morgen warten. 

Auf der Lichtung stand eine altersschwache Hütte. Aus einem Loch im Dach stieg eine dünne Rauchfahne auf. Die Fenster waren mit Sackleinen verhangen und entließen nur dünne Streifen wärmenden Lichtes hinaus in den Abend. Außer der Hütte gab es nur einen schmalen Pfad hinunter zum Bach und einen weiteren, der zu einem Stapel Feuerholz führte. Dieses war an einem dichten Dornengestrüpp aufgestapelt und mit einer alten Plane notdürftig vor den Elementen geschützt. 

Unterschlupf würde der Faun hier nicht finden. Vorsichtig schlich er dicht an eines der Fenster und spähte durch den schmalen Spalt. 

Von innen war die Hütte genau so karg wie von außen. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Außer dem Ofen, über dem ein Kessel dampfte, gab es nur einen wackligen Tisch und eine Bettstatt aus Strohsäcken und mottenzerfressenen Decken. Dort lag eine junge Frau mit bleichem Gesicht, deren Stirn vor Fieberschweiß glänzte. 

In der Ecke saß ein Kind undefinierbaren Alters und Geschlechts und bemühte sich, mit steifen Fingern Wolle auf eine Fallspindel zu spinnen. Der Faden gelang schon recht gleichmäßig und dünn, färbte sich jedoch an einigen Stellen rötlich. Neben dem Kind stand ein Korb, in dem sich die Wollknäuel häuften. 

“Mir ist kalt”, murmelte die Frau auf dem Lager. 

Das Kind erhob sich, goss Wasser aus dem Kessel in einen hölzernen Becher und trug ihn zu der Frau hinüber. “Wenn doch nur Großvater bald vom Markt heimkäme!” 

“Es ist schon spät”, antwortete die Frau. “Bestimmt übernachtet er im Ort und macht sich morgen früh auf den Weg.” 

“Das hast du gestern auch schon gesagt”, antwortete das Kind. 

Die Frau blieb still. 

Der Faun konnte nicht alles sehen, was in der Hütte vor sich ging, aber er roch nichts, was auf Vorräte hingewiesen hätte. Die Menschen waren so zerbrechlich! Sie schienen auf einander angewiesen, um die harten Bedingungen der Welt zu ertragen. Wie es mit dem Kind weitergehen sollte, wenn die Frau dem Fieber erlag, mochte er sich nicht vorstellen. 

Auf leisen Hufen schlich er zum Holzstapel hinüber. Die Beeren, die in dem dornigen Gestrüpp wuchsen, wärmten das Blut und halfen gegen die Kälte. Er wusste, dass sie sehr bitter waren, aber sie machten einen stark für den Winter. Vorsichtig reckte er sich und streckte den Arm in das Dickicht, so tief es ging. 

Sein grauer Pelz bot kaum Schutz gegen die Dornen. Als er die hintersten Beeren erreichte, färbten ihr Saft und sein Blut den Ärmel rot. Er stapelte Feuerholz vor der Tür der Hütte, breitete seinen Proviant aus getrockneten Pilzen und Wurzeln darauf aus und krönte die Gabe mit den roten Beeren. Dann klopfte er und lief rasch davon, um sich hinter dem Feuerholz zu verstecken. 

Lange Zeit geschah nichts. Dann öffnete die Tür sich einen Spalt. “Großvater?” 

Das Gesicht des Kindes lugte zur Tür heraus. Es dauerte einen Moment, ehe sein Blick auf den Gabenhaufen vor der Tür fiel. Dann jauchzte es vor Freude und beeilte sich, die Beute ins Innere der kleinen Hütte zu bringen. 

Der Faun schlich zurück ans Fenster und lauschte. 

“Mama, Mama, schau! Jemand hat uns Geschenke gebracht! Hier sind frische Beeren!” 

“Bist du sicher, dass du niemanden gesehen hast?” 

Das Kind überlegte kurz. “Doch, da war ein dicker Mann! In einem Mantel! Der war ganz rot!” 

Die Mutter lächelte schwach. “Ein dicker Mann in einem roten Mantel, hm?” Sie ließ zu, dass das Kind ihr einige der Beeren in den Mund steckte. “Wenn ich dir erkläre, was du tun sollst, glaubst du, du kannst dann aus den anderen Sachen eine Suppe kochen?” 

Das Kind nickte. Unter sichtbarer Anstrengung legte es zwei große trockene Scheite auf das Feuer. Und während es sich ans Werk machte, zog der Faun sich ins Unterholz zurück. Sein rechter Arm schmerzte von den Kratzern des Dornbusches, und der ehemals graue Ärmel wirkte im schwachen Mondlicht, das durch die bloßen Zweige fiel, schwarz. Als er zurückblickte, hatte der Schnee bereits begonnen, seine Hufspuren zu füllen. Er würde einen windgeschützten Unterschlupf für die Nacht finden. Vielleicht kehrte der Großvater der Familie ja am nächsten Tag zurück und brachte alles mit, was sie für den Winter benötigten. 

Bestimmt würde sich schon bald niemand mehr an sein mickriges Geschenk erinnern. 

Der Faun verschwand in den Tiefen des Waldes. 

Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er dort noch heute. 

Ein Artikel von Diandra Linnemann

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