CN: Blut, Schwertkampf, Verwundung durch Pfeil, Beschreibung eines Schlachtfelds, Tod, Nahtod, Operation
Der Aragonit
Kára drückte den Anhänger ihres Medaillons, ein brauner, geschliffener Stein, den sie nun seit Dekaden am Herzen trug.
Sie gedachte jener Schlacht vor über dreißig Menschenjahren. So viele tapfere Seelen hatte sie geholt. Diese eine jedoch, jene, deren Augen immer noch strahlten … Pariya, die der Pfeil nur fast tödlich verwundet hatte, die hatte Kára vor die Wahl gestellt.
Das Mädchen hatte gehustet und zu ihr aufgeblickt: »Mein erster Kampf und schon begegne ich der schönsten der Walküren?«
Natürlich war sie nicht die erste, die Kára hatte schmeicheln wollen. Doch etwas hatte sie an der jungen Kriegerin Pariya gerührt. So kniete sie sich zu ihr und nahm ihre kalte, blutverklebte Hand. »Deine Zeit muss noch nicht gekommen sein, dein Schicksalsfaden hält Großes für dich bereit. Siege, Ruhm, ebenso starke Töchter. Aber dafür musst du jetzt tapfer sein.«
»Dafür wurde ich trainiert …« Die Stimme des Mädchens brach. Sie lehnte den Kopf zurück in die Erde und atmete durch, ehe sie flüsterte: »Und dann? Nach den Siegen und den Kindern? … kann ich zu dir?«
Káras Herz hatte schneller geschlagen, und eine fast vergessene Wärme hatte ihr Innerstes erfüllt. Auch heute noch, wenn sie sich erinnerte, wie Pariya auf ihr Nicken hin, ihren Brustpanzer abstreifte und den Pfeil, der sie genau zwischen zwei der eisernen Glieder getroffen hatte, abbrach. Dann hatte Kára ihr geholfen sich zu drehen und die von dem Mädchen – der Kriegerin – selbst durchgeschobene Pfeilspitze ergriffen. Ihr langer Schrei durchbrach die schwere Luft, die unwirkliche Stille, die auf den Feldern nach jeder Schlacht herrschte.
Pariya überlebte, wurde gefunden und zu Ende versorgt. Sie wurde gesund, trainierte verbissener als zuvor, errang die prophezeiten Siege und bald führte sie als Iya, Herrin des Blutes, wie sie nun genannt wurde, ein eigenes Heer an. Kára hatte ihr dabei zugesehen, sich gefragt, ob die Menschenfrau sich ihrer erinnerte oder ob sie ihre Begegnung für einen Traum gehalten hatte. Iya hatte jedoch tatsächlich nie geheiratet.
»Nimm dies«, hatte sie damals zu ihr gesagt, als Kára die Wunde notdürftig bedeckt und sichergestellt hatte, dass die junge Kriegerin gerettet werden konnte. Sie gab ihr den Anhänger aus Aragonit, ihr Medaillon, das denselben Braunton besaß wie Káras Haut. »Es ist von meinem Bräutigam, aber ich werde nicht zu ihm zurückgehen.«
Ungläubig hatte die Walküre den Pfand angenommen. Und seither getragen.
Sie drückte ihn einmal mehr und stecke ihn zurück in ihr Hemd. Dann saß sie auf und blickte über die Regenbogenbrücke auf die Menschenwelt. Heute würde die Herrin des Blutes von einer jüngeren, ebenbürtigen Kriegerin geschlagen werden und endlich zu ihr, Kára, kommen. Die Walküre wollte sich beeilen und die Kriegsherrin nicht lange leiden lassen. Und ihr Versprechen einlösen.
Sie gab dem Pferd die Sporen und ritt mit ihren Schwestern über den Bifröst. Zu Iya, auf die sie so lange gewartet hatte.
Ein Artikel von Claudi Feldhaus