Schicksalsstöcke

Türchen 7: Game over (June Is)

Luke machte sich ohne Jacke auf den Weg. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, als er von der Wohneinheit nach draußen trat. Lässig ließ er die ID-Card an einem langen Band aus der Jeanstasche hängen. Sie pendelte bei jedem Schritt an seinem Oberschenkel, doch Luke bemerkte dies nicht. Heute würde er es schaffen! Schließlich war er kein Noob mehr.

Als er näher an den zugefrorenen See in der Grünanlage kam, sah er die üblichen Aggro-Witzfiguren schon von weitem. Lenard, Julius und  irgendwo abseits … Kati.

Lenard schrie ihm als erster entgegen: „Schaut mal, wer da ist, unser Lukilein. Ob er es wohl diesmal schafft?“

Wohl diesmal schafft

diesmal schafft

schafft

schafft

Trotzdem gab er sich betont lässig, zuckte nur kurz mit den Schultern. Was sollte schon schief gehen? Schließlich hatte er eine Menge Zeit und Bitcoins investiert.

Kati stellte sich ihm in den Weg. „Du weißt, was passiert, wenn du es vermasselst!“

Es vermasselst

masselst

masselst.

Oh, und wie er das wusste! Bis zum nächsten Versuch würde er ein volles Jahr warten müssen und wieder Geld bezahlen, damit ihm kein anderer zuvorkam. Das durfte auf gar keinen Fall passieren! Außerdem wollte er ihr beweisen, dass er kein Noob war.

Luke drehte sich um und schaute Julius an. Würde er auch noch etwas Unrat bei ihm ablassen? Noch ein Schritt näher und Luke würde mit ihm zusammenstoßen.

Doch der verzog seinen Mund nur zu einer undeutbaren Miene.

War Julius etwa ein Cheater geworden?

Luke fand dies fast schon amüsant, natürlich nur auf einem höchst ironischen Level.

Währenddessen trafen mehr und mehr Leute ein und sammelten sich vor einem riesigen, mit Tannenzweigen verzierten Screen. Ein paar Weihnachtskugeln hatten es auch in die Äste geschafft – großartig! Luke betrachtete die gruselige Masse an Individuen, bei der er nie wusste, ob sie es gut oder schlecht mit ihm meinten. Alias: Die Crowd.

Luke buffte sich mit ein paar Spikes, die es neben dem See über ID-Card auszuleihen gab und betrat die spiegelglatte Fläche. An manchen Stellen im Eis waren Feuerwerkskörper installiert. In wenigen Minuten erwartete die Crowd von ihm, dass er die passenden Raketen im richtigen Moment anzündete. Er versuchte es seit zehn Jahren. Doch stets failte Luke.

Zumindest, wenn es darauf ankam.

Der God-Mode wäre hier sehr hilfreich, denn die Beta-Test-Software war einfach für den Eimer. Total verbuggt. Dabei hatten sich die Entwickler echt Mühe gegeben, veranstalteten ein fulminantes Spektakel.

Zuerst würde der Bürgermeister labern, dann das Orchester den ersten Akt spielen, dazu erschien Feuerwerk auf dem Screen. Im zweiten Akt war Luke dran. Sobald der Typ das erste Wort gesagt hatte, gab es kein Zurück mehr. Wo war eigentlich sein Feuerzeug?

Julius! Hastig drehte er sich um. Da stand er am Ufer und hielt grinsend das gesuchte Teil in die Höhe. „Du mieser kleiner Verräter! Das hier ist kein Jump_n_Run!“, schrie Luke und rannte auf Julius zu.

Einer in der Crowd hielt ihm eine gecastete Pistole hin. Luke schnappte sie sich. „Na warte!“ Er gab einen Warnschuss in die Luft. Ein paar anwesende Damen schrien hysterisch, aber berechtigt.

„Okay, okay, Mann, beruhige dich doch, hier ist es!“ Julius droppte das Feuerzeug und gab ihm einen Schubs, sodass es von ihm über das Eis bis zu Luke schlitterte.

Dieser stoppte es mit dem Fuß.

„Das Spiel ist noch nicht vorbei“, murmelte Luke und ließ die Waffe verschwinden.

Dann hörte er auch schon den Bürgermeister seine Ansprache beginnen. Der hätte durchaus warten können, bis Luke wieder bei den Raketen war. Ab jetzt hieß es höchste Konzentration!

Erster Akt – Geige mit abgestuften blauem Feuerregen, Harfe mit grünen Sternen, Trommelklänge in rot, Klavier bedeutete Goldregen anzünden, Bass Silberregen. Soweit, so gut. Doch als der zweite Akt begonnen hatte, spielten sie nicht mehr einzeln, sondern durcheinander, manche  im Duett mit anderen, wieder neue setzten später ein, als erwartet und die Musik verklumpte in Lukes Ohren zu einem wahren Kauderwelsch.

Wie ein Irrer ließ er die verschiedenen Feuerwerkskörper hochgehen, in der Hoffnung, wenigstens die Hälfte zur rechten Zeit zu treffen. Früher hätten ihn seine Kumpels ausgelacht, wenn er Button-Mashing betrieb.

Immer, wenn er Julius oder Lenard lachen hörte, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Am Anfang lachten sie selten, doch dann öfter.

Die Crowd schrie permanent „Oh“, „Ach“ und „Jaaaa“, doch er hörte das Gelächter der Aggros durch Hunderte Leute hindurch.

Als er alle Raketen verpulvert hatte, hockte er sich frustriert aufs Eis. Wer erfand nur so einen Blödsinn? Er wusste, was jetzt kam.

Auch dieses Jahr las er: Game Over in aufdringlichen Lettern auf dem Screen am See.

Luke nahm die Virtual Reality Brille ab, löste die Kontroller von seinen Füßen und blickte in sein leeres Wohnzimmer. Einzig das Bild seiner vor fünf Jahren verstorbenen Freundin hing an der kalkweißen Wand gegenüber. Wenn sie noch da wäre …

Schnell verdrängte er den Gedanken wieder. Wieso war es ihm verdammt noch mal nicht möglich, dieses Weihnachtsfeuerwerk in Virtual Village hinzubekommen? Er hatte über die Jahre alles Mögliche probiert. Sogar Abfolgen anhand des Stückes, was das Orchester spielte, errechnet. Trotzdem vermasselte er es. Immer wieder.

Betrübt stellte er fest, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Luke entnahm dem Kühlschrank das letzte Glas saure Gurken und ging auf den Balkon. Während er es aufschraubte, betrachtete er den verschneiten Park gegenüber. Der See war zugefroren.

Merry Xmas, Kati!, dachte er und weinte.

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