Schicksalsstöcke

Eva-Maria Obermann: Spiegelbild. #Halloween im #Nornennetz

„Wer bist du“, frage ich die Person im Spiegel. Sie lächelt still, antwortet nicht. Meine Hand fährt durch meine Haare, verfängt sich in einem kleinen Knoten. Auch ein Knoten in ihren Haaren, wie ich versucht sie, ihn mit den Fingern zu lösen, versagt, greift zur Bürste. Ich erkenne sie, es ist meine Bürste, das Spiegelbild meiner Bürste, das durch das Spiegelbild meiner Haare streift, entwirrt, reißt.

Erst als die Person das Gesicht verzieht, erkenne ich den leichten Schmerz, der meinen Kopf durchzieht. Ich will die Bürste fallen lassen, doch mein Spiegelbild hält an ihr fest.

„Warum tust du das?“ Meine Worte werden an der glatten Oberfläche reflektiert, fallen auf mich zurück, und ich frage mich, warum ich die Bürste fallen lassen will. Die Antwort bleibt aus wie die meines Spiegelbilds.

Das stille Lächeln ist standhaft. Es verändert das Bild vollkommen. Die Falten um den Mund werden zu Lachfalten, verjüngen. Die Augen, gerichtet auf sich selbst, verlieren sich in der Unendlichkeit der Wiederholung, die Facetten ihrer Iris potenzieren sich zum Farbenspiel in meinen Augen.

Ich vergesse mich im Selbstbild, das zum Fremdbild wird. Kenne ich sie?

Mir wird kalt, während hinter ihr ein Licht aufleuchtet. Ich sehe mich um. Sieht sie sich auch um? Es wird dunkel um mich, die Kälte breitet sich aus. Ein Geräusch aus dem Spiegel erreicht mich.

Woher kommt es, ich sehe nur mein Spiegelbild, die Erscheinung vor mir, die mich weiter anschaut, doch ihre Lippen formen Worte. Ich forme sie nach, versuche zu verstehen, was sie sagt, indem ich es selbst sage. Es hat keinen Sinn. Was will sie mir mitteilen?

Plötzlich befällt mich Angst, ich kann sie nicht lokalisieren, nicht verstehen. Wovor habe ich Angst? Sie soll nicht gehen, die Person im Spiegel, soll sich nicht abwenden, soll mich nicht zurücklassen in der Kälte. Das Licht wird dumpfer, pulsiert im Takt meines Herzens.

„Wovor fürchtest du dich?“, sage ich zu mir selbst. Oder sagt sie das? Ich halte an ihr fest, an den Worten, die aus ihrem Mund, der zu meinem Mund wird, unserem Mund kommen. Sie verhallen. Etwas hinter ihr, sie dreht sich um.

„Wohin gehst du“, rufe ich, schreie ich, fühle das Verblassen. „Warte“, flehe ich, doch mein Flehen wird zum ungehörten Hauch. Ich vergehe, weil sie geht, doch ich spüre keinen Schmerz. Nie wieder werde ich sie sehen, werde mich sehen, denn im nächsten Moment wird sie eine andere sein und ich bleibe das vergangene Spiegelbild des Gewesenen.


Bildnachweis @StockSnap auf pixabay

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