Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit"
Schicksalsstöcke

Rauhnächte: 1. Rauhnacht Schwarz

Seifenblase mit Regebogenfarben, "Rauhnächte- Bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit" Rauhnacht 1
Grafik: Jana Jeworreck

CN Suizidale Gedanken

Die Vorahnung

Wie jeden Sonntag legte ich meine Tarotkarten, um zu wissen, was mich in der kommenden Woche erwartete. Die ersten zwei Tage waren harmlos, doch für Mittwoch prophezeiten sie mir den Tod. Meine Hand zitterte, als ich die nächste Karte aufdeckte, um zu sehen, ob es sich um meinen eigenen handelte. War es nicht. Erleichtert atmete ich auf, dennoch zog ich beunruhigt eine weitere. Wenn es ein Unfall war, könnte ich – selbstverursacht. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Jemand aus meinem Freundeskreis würde sich am Mittwoch das Leben nehmen, wenn ich nichts dagegen unternahm. Bemüht, ruhig zu bleiben, beugte ich mich vor, um die kleine Schüssel zu mir zu heben, die ich für genaueres Wahrsagen immer bereithielt. Ein wenig Wasser schwappte über den Rand auf den Tisch. Zum Glück ohne etwas zu benässen. Ich zog die Kette unter meiner Bluse hervor und hielt sie über das stille Wasser. Für einen Augenblick schloss ich die Augen, um mich auf meine Frage zu konzentrieren. Als ich sie wieder öffnete, schwang der lange, schmale Steinanhänger bereits hin und her. Kreise bildeten sich auf der Oberfläche und offenbarten ein Gesicht. Franziska. Selbstbewusst, sarkastisch und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Vor allem aber auch immer für andere da. Tränen liefen mir über die Wangen. Kälte ergriff mein Herz. Warum hatte ich nicht gesehen, dass es ihr schlecht ging? Die Menschen, die am hellsten strahlen, versteckten die tiefste Dunkelheit, schoss es mir durch den Kopf. Auch hier schien es wieder zu stimmen. Ein Lächeln, das davon ablenkte. Bunte, ausgefallene Kleider anstatt schwarze, wie sie oft Leuten mit solch finalen Gedanken zugeschrieben werden. Auf den ersten Blick sah man Franziska ihre innere Dunkelheit nicht an. Nicht, dass ich es, nun da ich von ihren Plänen wusste, könnte. Das macht es so gefährlich. Die Betroffenen denken nicht, dass sie Hilfe verdienen. Die Leute, die mit ihnen umgehen, sehen nicht, dass sie leiden. Hätten die Karten es mir nicht gezeigt, wäre es mir vermutlich auch nicht aufgefallen. Nicht rechtzeitig.

Ich schaffte es allerdings erst am Mittwoch, selbst zu Franziska zu gehen. Die letzten Tage hatte ich ihr so oft wie möglich geschrieben, mehr als ich es sonst tun würde.

»Miriam? Was machst du hier?« Franziska sah mich verwirrt an, als sie die Tür öffnete.

Sie wirkte nicht anders als sonst, vermutlich hatte sie aber auch einen Glamour über sich gelegt, als ich klopfte.

»Die haben auf Netflix neue Romance-Filme freigeschaltet. Hast du Bock?«, fragte ich und hob den Korb, aus dem eine Flasche Wein herausragte. »Ich könnte ne Aufheiterung vertragen.«

»Ich darf mich schamlos über schlechte Klischees und Zufälle lustig machen?«, fragte sie skeptisch, blockierte jedoch immer noch die Tür indem sie die Arme gegen den Rahmen stützte.

»Ich bitte darum!«, versicherte ich ihr mit einem Grinsen, dass sie erwiderte und mich eintreten ließ.

»Hi Felix«, grüßte ich den alten Raben, der auf seiner Stange am offenen Fenster saß. Er krächzte zurück und wog sich hin und her.

»Hab uns ein paar Sachen mitgebracht«, erklärte ich, als ich den Korb auf den Couchtisch stellte und fügte mit einen Blick auf den Vogel hinzu: »Auch für dich.« Er keckerte freudig.

»Miriam.« Franziska klang ernst. 

Ich behielt das Lächeln auf den Lippen, als ich mich zu ihr umdrehte.

»Warum bist du wirklich hier?«

Ah, meine Tarnung war bereits aufgeflogen. Einer Hexe konnte man allerdings auch nur schwer Dinge verheimlichen und so entschied ich mich für die Wahrheit. »Ich hatte eine Vorahnung, die ich nicht wahrwerden lassen wollte.«

Sie beäugte mich skeptisch, suchte in meinem Gesicht nach irgendetwas. Dann senkte sie ihren Blick, ein sanftes Lächeln spielte um ihren Mundwinkel. »Danke«, flüsterte sie aufrichtig.

»Jederzeit«, erwiderte ich ebenso still.

Ich bot ihr eine Umarmung an, die sie ohne ein Wort annahm. Meine Anwesenheit würde die Dunkelheit nicht vollends vertreiben, aber sie zumindest ein wenig länger in Schach halten.

Ein Artikel von Anne Zandt

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