Schicksalsstöcke

Kalender 2021: März

Das Kalenderblatt

Da dies ein Kalenderblatt ist, könnt ihr es hier downloaden und ausdrucken.

Leider passt nicht die gesamte Geschichte auf die grafische Darstellung, deswegen gibt es diesen Beitrag:

März

Meine Füße berührten die Blüte kaum, da war ich schon zum nächsten Krokus gesprungen. Das ganze Tal war voll von ihnen, hier und da mischten sich auch Schneeglöckchen darunter. Ein Meer aus grün, lila und weiß.
Der Wind frischte auf, ich öffnete meine Flügel und zischte knapp über den duftenden Blumen entlang, mein Ziel fest im Blick. Es dauerte nicht lange, bevor ich im Blumenkasten der großen Hütte landete. Noch war niemand hier, die Sonne war erst vor kurzem hinter dem Berg hervorgekommen.
Ich schlang meine grünen, von feinen dunklen Adern durchzogen Flügel um mich, duckte mich unter die Blätter und spähte ins Innere. Schwere Holzbänke und -tische, rot-weiß-karierte Tischdecken und im Schatten gelegen ein Tresen.
Ich schluckte, kramte einen Samen aus meiner Fasertasche und presste ihn in die untere Ecke des Fensters. Nachdem ich ein paar Schritte zurückgegangen war, nahm ich eine Handvoll Erde auf und schmiss sie gegen den Samen. Sofort explodierte er mit einem lauten Plopp, splitterndes Glas folgt. Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Niemand zu sehen. Erleichtert atmete ich aus, blieb aber angespannt.
Die Explosion hatte spinnenwebenartige Risse verursacht. Vorsichtig konnte ich etwas von dem Glas entfernen. Stück für Stück legte ich es in die Erde. Das ging zu langsam. Der Spalt sah zu klein aus, trotzdem versuchte ich, mich hindurchzuzwängen. Meine Schulter durchfuhr ein stechender Schmerz, als sie gegen eine Spitze kam. Verdammt!
Ich zog mich zurück und trat gegen das Glas. Es splitterte genug nach innen, fiel klirrend auf den Boden, dass ich hindurchtreten konnte.
Im Inneren war es kühl und roch nach Bier. Ich stieß mich vom Fensterbrett ab und flog auf den Tresen. Die Unebenheiten des Holzes waren auch durch meine Schuhe deutlich zu spüren.
Es musste hier irgendwo sein. Zwischen den Gläsern, in den Fächern, unter dem Tresen und auf den Tischen war es nicht. Langsam breitete sich ein dumpfes Gefühl in meinen Magen aus. Zog sich durch meinen Geist wie Spinnmilben. Aber es musste hier sein. Bestimmt hatten sie es nicht mit Absicht gestohlen, sondern haben es irgendwo abgestellt und vergessen. Aber wo?
Die Küchentür war verschlossen. Egal wie sehr ich mich auf die Klinke presste, sie wollte sich nicht bewegen.
Es klackte. Ich zuckte zusammen und flitzte in die nächste Ecke unter dem Tresen.
Die Holztür wurde aufgeschoben, die Scharniere quietschten leise. Dann kamen Schritte auf mich zu. Ich presste mich so fest gegen das Holz, dass meine Flügel anfingen zu schmerzen.
Jemand ging an mir vorbei, gähnte, öffnete die Küchentür. Bevor sie wieder geschlossen werden konnte, stieß ich mich ab und flog hindurch. Hinter mir fiel die Tür mit einem Klacken ins Schloss. Der Mensch beachtete mich nicht, legte nur eine Schürze an und krempelte sich die Ärmel hoch. Er kippte das Fenster, wusch sich die Hände und klatschte. »Na dann mal los!«
Mein Blick huschte über die Arbeitsflächen, die Töpfe und Pfannen entlang. Das dumpfe Gefühl wurde größer. Drohte mich zu verschlingen. Die Zeit rannte.
Der Mensch nahm ein Blatt Papier zur Hand, runzelte die Stirn.
Ein zweiter Mensch kam durch die Tür. Eine Frau. »Was gibt’s neues?«, fragte sie, während sie ihre Haare zu einem Zopf band.
»Heute gibts Rosenkohlsuppe. Auf geht’s.«
Ich schlich mich durch die Küche. Hinter dem Mann entlang, der gerade die Messer inspizierte. Seine Schuhe sahen von nahem beunruhigend groß und schwer aus. Ich schluckte.
»Fertig? Dann hol alles für die Vorspeise aus dem Kühlraum«, sagte er.
»Aye, aye.« Sie öffnete eine schwere Tür. Zwischen den Füßen der Arbeitsplatten versteckt, lief ich näher heran, hielt mich aber von der kalten Luft fern.
Die Frau nahm einige Dosen und Holzkisten heraus, stellte sie auf den Tisch vor sich. Dann nahm sie eine der Holzkisten hoch. »Wo kommen die denn her?«
»Ganz aus der Nähe. Wenn du hinter dem Bauernhof im Tal die Straße nimmst, ist neben dem Wald ein Feld. Viel frischer geht es nicht.«
Sie betrachtete die Kiste und zog eine der Knospen heraus. Sie war bräunlich, hatte ihr strahlendes grün verloren. Mein Herz setzte einen Schlag aus. War ich zu spät?
»Sieht aus, als wäre die hier schlecht.«
»Schmeiß weg und ab an die Arbeit, wir öffnen in ’ner Stunde.«
Sie ließ die Knospe fallen. In den Mülleimer. So schnell mich meine Flügel trugen, zischte ich durch die Luft, fing das Bündel Blätter auf und flog aus dem Fenster davon. Im Moment war es mir egal, ob mich jemand sah.
Ich hielt es fest an mich gepresst, spürte, dass das Leben es bereits verließ. Ich raste über die Blumenwiese, vorbei am Bauernhof und in den Wald. In der Mitte stand der Baum, zu dem ich musste. Vorsichtig legte ich das Bündel in eine Kuhle im Baum, die mit Farn und Krokussen gepolstert war. Gerade noch rechtzeitig. Langsam kehrte das Grün ins Bündel zurück. Erleichtert atmete ich auf. Nur Augenblicke später und das Feenkind hätte nicht überlebt.

Ein Beitrag von Cel Silen

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