Zeitreiseuhr mit Cyborg Nornen zu beiden Seiten, eine dunkelhäutig, eine mit Prothese
Schicksalsstöcke

Von KI, den Nornen und dem Rest der Welt

Nach Jahrzehnten der KI-Forschung, in denen man dem Thema mit Ontologien, regelbasiertem Schließen und umfangreichen thematischen Strukturen näherkommen wollte, hat sich schließlich etwas ganz anderes durchgesetzt: die statistische Verarbeitung von Massentexten in einem trainierten Sprachmodell. Und so ist letztlich ChatGPT als neues Objekt der Begierde erschienen, da es Texte erzeugen kann, die einen gewissen Sinn ergeben können und oft als Antworten auf Fragen geeignet sind. Die Anmeldezahlen belegen, daß man weltweit begeistert davon ist, und schon jetzt werden weitere optimierte Varianten, Schnittstellen zu bestehenden Programmen und Integrationen entwickelt. Videos auf Youtube zeigen, welche erstaunlichen Dinge damit schon gemacht wurden, vom Retro-Computerspiel bis hin zu Noten für Musik oder illegale Keys für Windows 95. Kurz, viele Leute überlegen, wie sie die beispiellosen Fähigkeiten des Programms für sich nutzen können… aber nicht die Nornen.

Dabei hätten sie ein eigenes kleines System haben können, das kostenlos und datenschutzgerecht nichts wissen will, sondern nur ein wenig Text generiert; nicht so gediegen wie das Vorbild, aber halt ohne sich irgendwo anmelden zu müssen und nicht befürchten zu müssen, was mit den eigenen Daten oder eingegebenen Textpassagen oder Prompts passiert.

Aber die Nornen besannen sich und trotzten der Versuchung. Denn um gute Geschichten oder gar Romane zu schreiben, brauchten sie keinen Papagei, der ihnen Versatzstücke aus dem Internet zusammenklaubt. Sie wollten ihre eigene Fantasie wirken lassen, anstatt sich fragwürdige Formulierungen, potenzielle Phrasen und wertloses Wiederkäuen von anderen Ausarbeitungen andrehen zu lassen. Nein, die Nornen wollten so arbeiten wie bisher. Und das hieß vor allem: selbst.

Hier einige markante Aussagen der letzten Heldinnen des Widerstandes gegen das Diktat der Maschine:

– „Ich traue keinem Chatbot, den ich nicht selbst geschrieben habe.“ — Diana D.

– “Ich mag Chat – aber er kann weder Subtext noch Show-don’t-tell.” – Esther S.

– “1c4 81n k31n R08070R” – Katharina R. 

– Die Wirrungen des menschlichen Geistes erschaffen Geschichten, wie sollte eine KI diese Wirrungen nachahmen können, wenn wir als Besitzer sie nicht verstehen können? – HP

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, daß Nornen als Angehörige einer uralten Gruppierung und Hüterinnen des Schicksals nun mal naheliegenderweise technischen Neuerungen skeptisch gegenüberstehen würden. Und sie schon eines Besseren belehrt würden, wenn nur einige Zeit verginge und die Systeme noch leistungsfähiger würden. Das ändert natürlich nichts an der Grundsituation: ein eigenes Konzept zu erstellen, eine eigene Welt zu entwerfen, mit eigenen Charakteren zu füllen und eine kohärente Handlung mit mehraktigem Aufbau und interessanten Wendungen zu erstellen ist ein kreativer Prozess und eine künstlerische Leistung, die sich grundlegend vom Druck auf eine Taste unterscheidet. 

Dazu kommt, daß Systeme wie ChatGPT all ihr antrainiertes „Wissen“ aus den Werken echter Autor:innen bezogen haben. Ohne all diese Vorlagen, mit denen es gefüttert wurde, könnte es rein gar nichts vermischen und als „neues“ Werk generieren. Das macht es eigentlich recht armselig, und nur die schiere Menge der gelernten Wissensbausteine bewahrt es davor, allzu schnell als Wiederholungstäter aufzufallen. Bei manchen etwas kleineren, freien Systemen, die immerhin ohne Registrierungszwang auskommen, fällt es hingegen schon schnell auf, daß auf eine Anfrage letztlich immer recht ähnliche Versatzstücke vorgeschlagen werden.

Und tatsächlich Neues kann so ein System schon gar nicht generieren. Ein Beispiel: der gesamte Literaturzweig des „kosmischen Horrors“ geht auf den Autor H.P. Lovecraft zurück, dessen ungewöhnliche Lebensumstände ihn zu einer damals neuartigen Variante der Fantasyliteratur inspirierten. Dies wurde von zahlreichen weiteren Autor:innen aufgegriffen und erweitert. Eine solche Abweichung hätte ein Computerprogramm, das nur auf bestehende Daten trainiert ist, niemals erzeugen können. 

Ein noch besseres Beispiel stellt wohl Mary Shelley dar, die mit ihrem Schauerroman Frankenstein die Grundlagen für das gesamte SF-Genre gelegt hat (Quelle).

Es ist also nach wie vor Sache der Menschen (und hier speziell derer, die weiterhin Wert auf eigene Kreativität legen), zu wahrhaft neuen und originellen Ansätzen, Geschichten und Erzählungen zu gelangen. In dieser Hinsicht ist ChatGPT bestenfalls eine Krücke. Und eine Krücke benutzt nur, wer auf sie angewiesen ist.

Sitzen die Nornen mit dieser Einstellung auf dem hohen Roß und halten eine Einzigartigkeit des Menschen hoch, die uns von der KI gerade streitig gemacht wurde? Werden sie mit allen anderen der schreibenden Zunft bald ihr blaues Wunder erleben, wenn Maschinen Texte schneller, fehlerfreier und irgendwie besser schreiben?

Das wird sich noch zeigen. Sicherlich versuchen gerade viele, auf den vorbeisausenden Zug aufzuspringen und Geld damit zu machen oder die eigene Tätigkeit damit auf die eine oder andere Weise zu erleichtern. Bei Hausaufgaben (wo ChatGPT sich aus unzähligen Texten bedienen kann, wenn es etwa um eine Zusammenfassung des „Faust“ geht) oder der Erstellung eines kleinen Programms (wobei ChatGPT auf den gesamten Inhalt von github, des größten Software-Repositories der Welt zurückgreifen kann) mag sowas angehen. Es kennt Anleitungen und Bedienungshandbücher, kann aus Ratgebern zitieren (oft ohne Quelle) und Textaufgaben lösen, ja. All das macht es aber nicht zu einem guten Autor. Genau betrachtet, nicht einmal zu einem mittelmäßigen.

Die Nornen werden seine Entwicklung gelassen verfolgen – und in der Zwischenzeit weiterhin gute, originelle und neue Werke schreiben.

Wie sie es schon immer getan haben.

Ein Artikel von Diana Dessler

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