Grafik Kalender 2021 - Text und ein Ornament: Der Kalender 2021, Eine Kurzgschichte für den Mai von Roxane Bicker
Schicksalsstöcke

Kalender 2021: Mai

Das Kalenderblatt

Da dies ein Kalenderblatt ist, könnt ihr es hier downloaden und ausdrucken.

Leider passt nicht die gesamte Geschichte auf die grafische Darstellung, deswegen gibt es diesen Beitrag:

Maienbirke

Sie dürfen mich nicht erwischen. Wenn Mutter merkt, dass ich so spät in der Nacht noch auf bin, dann wird sie es dem Vater sagen. Er wird zürnen und mir verbieten, am nächsten Tag den Hof zum Maitanz zu verlassen.

Deshalb habe ich kein Licht gemacht, stehe im Dunkeln am Fenster und spähe hinaus. Ich weiß, dass er heute kommen wird. Es ist die Nacht, in der die Burschen in den Wald ziehen. Die Nacht, in der sie die Bäume schlagen. Wenn ich mich nicht täusche, dann wird Eik heute Nacht eine Birke an unseren Zaun binden. Die letzten Tage schon hat er mir immer wieder Blicke zugeworfen, wenn wir uns im Dorf begegnet sind, er hat mir sogar zugezwinkert. Ich wurde rot und habe den Blick gesenkt, wie es sich gehört. Doch die Neugier ließ nicht von mir ab. 

Mein Herz schlägt schneller vor lauter Aufregung.

Dort kommen sie – erst sehe ich den Schein ihrer Lampen, dann dringt ihr unterdrücktes Gelächter durch das Fenster, das ich nur einen Spaltbreit geöffnet habe. Mitten unter den Burschen entdecke ich Eik. Über seiner Schulter liegt eine junge, hohe Birke. Ich kann ein Lachen kaum unterdrücken. Er will sich wohl nicht lumpen lassen und hat einen ganzen Baum ausgegraben, nicht nur einen jungen Schössling geschnitten. Die anderen helfen ihm, die Birke an unserem Zaun aufzurichten. Der dicke Wurzelballen lässt den Baum wanken, doch schnell sind Hände bereit, den Stamm zu halten und ihn an die Holzlatten zu schnüren. Eik zieht bunte Bänder aus den Taschen. Geschickt flicht er sie um die schlanken Äste, dann stemmt er die Hände in die Hüften und betrachtet sein Werk. Sein Blick huscht hinauf zu meinem Fenster. Ich weiche geschwind weiter zurück in die Dunkelheit. Was soll er nur von mir denken, wenn er mich hier erspäht? Was wird Vater nur denken, wenn er am Morgen den Baum erblickt? Eik hat ein deutliches Zeichen gesetzt und damit wird es wohl im kommenden Herbst nach der Ernte eine Hochzeit geben.

Ich lausche in mich hinein, während die Burschen weiterziehen und das Licht verschwindet. Ich lausche, doch es bleibt still in meinem Inneren. Ein wenig Herzklopfen pocht dort. Mein Leben wird sich verändern. Der Hof von Eiks Vater ist groß. Es hätte mich schlechter treffen können. 

Leise ziehe ich das Fenster zu, werfe einen letzten Blick auf die Birke, deren Blätter im leichten Wind tanzen. Doch noch bevor ich das Fenster ganz schließen kann, höre ich das dumpfe Geräusch, als wenn ein Körper zu Boden fiele.

Schnell lehne ich mich hinaus. Tatsächlich, dort liegt jemand vor unserem Zaun. Ist einer der Burschen zurückgeblieben? Hat er zu viel getrunken? Einen Moment warte ich, doch der Körper regt sich nicht und niemand kommt, um ihn zu holen.

Kurzentschlossen schlinge ich mir eine Wolldecke um die Schultern und husche leise, ganz leise auf bloßen Füßen die Stiege hinunter und über den Hof. Der Vollmond erhellt mir meinen Weg.

Es ist keiner der Burschen, der dort zusammengebrochen ist. Im Staub des Weges liegt der Körper einer jungen Frau. Ihr schlanker, zarter Körper sieht so zerbrechlich aus, als hätte sie nie schwere Arbeit verrichten müssen. Ihre Haut ist weiß, weiß wie Schnee und meine raue Hand zeichnet sich auf ihrem Arm ab, als ich danach greife. Lange Haare fallen über ihre Schultern. Auch sie sind weiß. Nur wenige schwarze Flecken finden sich darin. Weiß und schwarz, schlank und zerbrechlich, wie … mein Blick wandert hinauf zu dem Baum … wie die Rinde der Maienbirke.

Früh am nächsten Morgen passe ich Eik auf dem Dorfplatz ab.

„Du musst sie zurückbringen! Pflanz sie wieder ein, wo du sie hergeholt hast.“ Meine Finger krallen sich in sein Hemd. Verständnislos schaut er mich an.

„Die Birke! Sie muss zurück! Sie sagt, sonst stirbt sie! Bring mir einen Blumenstrauß, halte bei Vater um meine Hand an, ich sage ja, aber ich flehe dich an, bring die Birke wieder in den Wald.“

Eik lacht. „Sie sagt? Seit wann sprichst du mit Bäumen? Nun, wenn es dich glücklich macht, dass du keine Maienbirke vor dem Tor hast. Wer bin ich, dass ich dem Wunsch einer Frau widerspreche?“

„Dem Brauch ist Genüge getan. Meine Eltern haben sie gesehen, alle Leute haben sie gesehen. Es ist gut, ich werde dich heiraten.“ Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und hauche ihm einen Kuss auf die Wange. „Bring sie zurück.“

Noch bevor er antworten kann, renne ich fort, zurück zu meiner Birkenfrau, die ich im Stall verborgen habe, wo sie um ihr Leben kämpft.

Noch nie in der Geschichte des Dorfes wurde ein Eheversprechen so schnell getroffen. Mit stolzgeschwellter Brust schreitet Vater über den Hof, während Mutter die Aussteuer zusammensucht. Die Leute reden, Gerüchte machen die Runde, doch keines entspricht annähernd der Wahrheit. In all der Aufregung stehle ich mich davon, renne aus dem Dorf. Über die Wiesen, den Hügel hinauf in den kleinen Hain, wo die Birke wieder steht, als sei nichts geschehen. Von ihrem Ausflug ins Dorf zeugen nur noch die bunten Bänder in den Ästen. Eines nach dem anderen entknote ich und diesmal sehe ich, wie sie sich aus ihrem Baum löst, in den sie zurückgekehrt ist, als sich seine Wurzeln wieder in die Erde streckten. Wie meine Birkenfrau plötzlich vor mir steht, die helle Haut in der Sonne leuchtet und ihr das weiße Haar über die Schultern fällt.

Hitze steigt in meine Wangen, als sie ihre Hand nach mir ausstreckt. Ich ergreife sie und wie von selbst verschlingen sich unsere Finger miteinander.

Ihre andere Hand legt sich um meinen Nacken, aus blattgrünen Augen schaut sie mich an, dann wispert sie: „Darf ich?“

Ich nicke und mein Herz singt, als sich unsere Lippen treffen. So hat Eiks Maienbirke doch die Liebe zu mir gebracht.

Eine Geschichte von Roxane Bicker.

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