Schicksalsstöcke

Kalender 2021: August

Das Kalenderblatt

Da dies ein Kalenderblatt ist, könnt ihr es hier downloaden und ausdrucken.

Leider passt nicht die gesamte Geschichte auf die grafische Darstellung, deswegen gibt es diesen Beitrag:

DIE ERSTE LÜGE

»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« Sie schlug das Buch zu und hob eine Augenbraue. »Wirklich, Jaho? Du holst mich zurück, um mir dein Tagebuch zu zeigen?«

»Lies weiter.« Er rührte in seinem Kaffee. »Die Bibel beweist, dass ich mich geändert habe.«

Es war ihr erstes Treffen seit dem Streit. Für diesen Anlass hatte er ein Café am Strand mit Aussicht auf den Horizont ausgesucht. 

»Warum sollte ich weiterlesen, wenn du unsere Kinder allein schon mit diesem Satz belügst?« Das Meer, den weißen Sandstrand und die Urlauber um sie herum beachtete sie nicht, sondern röstete ihn mit ihrem Blick. »Gut, ich gebe dieser Geschichtensammlung noch eine Chance, wenn ich darin auch nur mit einem Wort erwähnt werde.«

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Du warst nicht da, als es geschrieben wurde.« 

»Und warum war ich nicht da?« Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. 

Er senkte den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich dich weggeschickt habe.« 

»Vor allem hast du mich damals erst hierhergeholt! Wir gestalten die Erde gemeinsam, machen halbe-halbe, hast du gesagt. Aber dann betrügst und belügst du mich!« Funken sprangen aus ihren Augen, versengten den Tisch. Die Menschen im Café steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. 

»Gut, wenn du das Thema wieder aufrollen willst.« Seine Nasenflügel weiteten sich. Das Sonnenlicht flackerte. »Du hast mich mit Evas Schöpfung hintergangen!«

»Hintergangen?« Ihre Stimme überschlug sich. »Wie denn, bitte?«

»Eva kann dank dir Leben schenken!«, spie er heraus.

»Aber nur, weil du bei Adam nicht daran gedacht hast!«, feuerte sie zurück. »Dafür rächst du dich an mir, indem du meinen Himmel blau färbst?« Sie zeigte anklagend nach oben. »Wir hatten eine Abmachung: Land und Wasser gehören dir, alles darüber ist meins. Und mein Himmel war rosa!« 

»Ich habe Eva gesehen und fühlte mich vorgeführt«, verteidigte er sich. „Warum hast du es mir nicht erklärt? Kaum hat Eva geatmet, bist du verschwunden.“

»Und wer ist auch daran schuld?«, fauchte sie. »Wie konntest du unseren Engeln nur EIN Feuerschwert geben? Du weißt doch, entweder kriegen alle eins oder keiner. Unsere Großen haben sich mit dem Ding gegenseitig fast umgebracht. Ich musste eingreifen. Und bei meiner Rückkehr sehe ich das da.« Sie schaute hoch und schüttelte den Kopf. »Ich wollte mit dir reden. Aber … Wie hast du das nochmal genau gesagt?« Sie äffte seine Stimme nach: »Ich brauche meine Ruhe. Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen.« 

Er setzte zu einer Antwort an, hielt inne und sank schließlich in sich zusammen. »Du hast recht. Du hattest immer recht. Nochmal, es tut mir leid. Mein Stolz war verletzt, ich habe überreagiert.« 

Sein plötzliches Eingeständnis brachte sie aus dem Takt. Schweigend saßen sie sich gegenüber, bis sie das Stück Erdbeerkuchen vor sich bemerkte. Langsam steckte sie sich einen Bissen in den Mund und der frische Geschmack besänftigte sie. »Wie geht es eigentlich unseren Engeln? Verstehen sie sich gut mit den Menschen?«, fragte sie kauend, um das Thema zu wechseln. 

Er seufzte. »Die meisten schon …«

Sie war gerade dabei, eine Erdbeere mit der Gabel aufzuspießen und erstarrte in der Bewegung.

Er spielte mit dem Zuckerspender. »Bevor du ausrastest, lass mich ausreden: Unser Luzi hat es nicht verstanden, warum du und ich auch noch die Menschen brauchen. Er dachte, ich würde die Kleinen bevorzugen …« Er schaute sie unsicher an.

»Und du hast ihm hoffentlich erklärt, dass du alle deine Kinder gleichermaßen liebst, und dass du immer für die Engel da bist?« Der dampfende Kaffee in seiner Tasse verwandelte sich in einen schwarzen Eiswürfel.

»Nicht ganz. Du warst nicht da und ich habe nicht die richtigen Worte gefunden. Die Menschen sind sehr anstrengend, permanent in der Trotzphase. Ich war alleinerziehend. Und dann Luzis Vorwürfe … « Er strich sich über die Stirn, holte tief Luft. »Kurz und gut: Wir haben uns gestritten und er ist ausgezogen.« Stille. Vor seiner Nase tanzten Schneeflocken, die Gäste um sie herum fröstelten. 

»Hast du mich deswegen zurückgeholt? Damit ich zwischen euch vermittle?« 

Zögernd nahm er ihre Hände. »Nicht nur. Hör hin. Hör in unsere Welt hinein. Die Menschen brauchen dich. Nein. Wir brauchen dich.«

Sie senkte die Lider, konzentrierte sich. Einen Moment später zog sie scharf die Luft ein und entwand ihre Finger seinem Griff. »Was hast du getan? So viel Chaos nach nur so kurzer Zeit?«

»Für uns war es nicht lang, für die Menschen schon«, sagte er leise. »Unsere Kinder brauchen beide Eltern.«

Seine Liebe für die gemeinsamen Babys berührte sie, aber da war noch eine Kleinigkeit zu klären. »Was machen wir mit dem Himmel?« 

Er schob seinen Stuhl um den Tisch, setzte sich neben sie und zeigte auf das Wasser. In diesem Augenblick tauchte die Sonne ins Meer, färbte den Horizont rosa. Die Menschen im Café und am Strand hielten inne und alle wandten sich zur Sonne. Seltener Frieden und Stille begleiteten die Farbsymphonie des Himmels.

»Deine Lieblingsfarbe war nie ganz weg«, sagte er sanft. »Siehst du unsere Kinder? Sie sehnen sich nach dir.«

Behutsam legte er den Arm um ihre Schulter. »Du hast uns so gefehlt, Ashera.« 

Sie lehnte sich langsam an ihn und seit ihrer Ankunft stahl sich das erste Lächeln auf ihr Gesicht. Der Horizont erstrahlte, glühte mit einer fast vergessenen Kraft. Er hielt die Luft an. Der Himmel schillerte in den Farben ihrer Augen, wie damals, als sie ihn zu Anbeginn der Zeit bemalt hatte. Überwältigt von diesem Anblick gingen einige Menschen in die Knie, einer alten Frau am Nebentisch liefen Tränen über die Wangen. 

Sie beobachtete ihren Mann und ihre Kinder. »Ich bleibe«, sagte sie lächelnd, »und ich verzeihe dir das Blaue vom Himmel.«

Er drückte sie fester an sich und flüsterte: »Irgendwo auf der Welt ist der Himmel immer rosa.«

Eine Geschichte von Lucia Herbst.

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Karl-Heinz Zimmer
2 Jahre zuvor

Ganz große Klasse! 🙂

Karl-Heinz Zimmer
2 Jahre zuvor

🙂 Eine der coolste Geschichten, die ich je las.

Lucia Herbst
Lucia Herbst
2 Jahre zuvor

Danke! Freut mich total! 😄