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Schicksalsstöcke

Adventskalender 2021: Wintermond

Wenn die Erde unter glitzerndem Schnee bedeckt war, fühlte ich mich meiner Heimat am nächsten. Mein Liebesbeweis an den Mond.

In Wintermondnächten wie dieser erfüllte Sehnsucht jede Faser meines Körpers. Hilflos starrte ich zu seiner vollen Pracht hinauf. Feine Schneeflocken schwebten um mein weißes Haar. Sie waren seine glitzernden Tränen, gefüllt von dem Wissen, dass ich nie wieder auf seiner weichen Oberfläche tanzen würde. Der Wind spielte mit meinem Kimono, seine Kälte umspielte meine Haut und konnte mich doch nicht erreichen.

Auf dieser Welt konnte nichts kälter sein als mein Herz. Seine einst heiße Neugier trieb mich her, und der versperrte Weg nach Hause ließ es frieren – jedes Jahr ein bisschen mehr, bis sich die Kälte dieser Welt vor mir verbeugte. Der Wind ließ meinen Ärmel frech flattern. Er wollte spielen, war ungeduldig, spürte den Sturm in meinem Inneren. Doch wenn ich den Sturm frei ließ, würden sich Wolken vor meinen Liebsten schieben und mir die Sicht versperren. Allein dieser Gedanke ließ die Temperatur um mich herum weiter sinken. Anstelle von Flocken rieselten nun einzelne Schneekristalle herab. Sie waren meine liebste Schneesorte, denn sie ließen sich nicht formen; weder zu Schneebällen noch zu Figuren. Kufen sanken hoffnungslos in ihnen ein, genauso wie Schritte, unfähig zu entkommen. Wunderschön und tödlich.

Der Sturm wehrte sich gegen meine Zurückhaltung. Die ersten Wolkenfäden verschluckten das Licht. Ohne ihn glitzerte mein Schnee nicht mehr. Ich wandte mich ab und ging langsam in Richtung des Waldes. Die Zeit war gekommen, dieses Tal einzufrieren.

Mit jedem meiner Schritte fiel die Temperatur weiter, der Himmel wurde dunkler, und das Spiel des Windes wilder. An der ersten Fichte hielt ich an. Mein Schnee dieser Nacht war zu leicht, um ihre Äste gen Boden zu drücken. Sanft strich ich über ihre Nadeln und hauchte einen Kuss auf diese. Sofort bildete sich eine funkelnde Eisschicht und überzog den ganzen Baum. Er ächzte unter dem Gewicht, doch würde der Sturm erst seine volle Wildheit entfesseln, würde er froh sein, dass seine Äste nicht abrissen.Langsam ließ ich den Sturm aus meinem Inneren frei, wie eine kontrollierte Atemübung.

»…immer ich? Das ist so unfair!« 

Das Knallen der Haustür klang durch den ansteigenden Sturm bis zu mir. Für Menschen kam jetzt eine schlechte Zeit, um sich draußen aufzuhalten.

Die Schneekristalle splitterten unter den Füßen des Menschen und ich folgte ihrem Klang. Wilde blonde Haare ließen sich vom Wind in die Höhe treiben. Tränen auf geröteten Wangen glitzerten mit meinen Flocken um die Wette.

»Du solltest nicht draußen sein.« Der Wind liebkoste meine Worte und gab ihnen einen unvergesslichen Klang, als würden die Berge selbst singen.

Das Mädchen drehte sich in meine Richtung. Doch anstatt erschrocken zurückzuweichen, wischte sie sich nur die Nase am Ärmel ab und sah mich trotzig an. »Lieber bin ich draußen allein, als drin.«

Ich sah ihren Weg zurück. Rauch stieg aus dem Schornstein des Hauses. Die Fenster verströmten gelbes Licht und ich erkannte die Silhouetten einer Familie. »Drinnen bist du nicht allein.«

Bei meinen Worten lachte das Mädchen bitter auf. »Du weißt nicht, wie es ist. Ein Raum voller Menschen und trotzdem bist du einsam.«

Ich seufzte. »Nein, nur wie es sich draußen alleine anfühlt.« Unsere Blicke trafen sich, ihrer wild und blau, wie der Himmel kurz nach Sonnenuntergang, meiner ruhig.

Das Mädchen wischte sich erneut die Nase. »Ich will nicht zurück.« Sie scharrte mit den Stiefeln im Schnee. »Kann ich nicht dir Gesellschaft leisten, dann muss keiner von uns einsam sein.«

»Das ist eine Entscheidung für die Ewigkeit. Bist du schon bereit, diese zu fällen?«, fragte ich sie ernsthaft.

Sie nickte entschlossen und die letzten Tränen gefroren zu Linien auf ihren geröteten Wangen. »Ja. Bitte nimm mich mit.«

»Wir können uns gemeinsam anschauen, wie das Tal einfriert.« Ich deutete den Weg zurück, den ich gekommen war.

»Cool!« Lachend sprang sie an meine Seite. »Du bringst den Winter?«

Behutsam schüttelte ich den Kopf. »Nur Schneestürme.«

»Sag doch nicht nur. Ich wünschte, ich hätte Superkräfte, dann würde mein Bruder nicht ständig…«, sie stockte.

»Was?«, hakte ich nach.

»Ach nichts. Lass uns nicht über meinen blöden Bruder und meine blinden Eltern sprechen.«

»Deine Eltern können nichts sehen?« Ohne das verräterische Licht um uns herum, musste das Leben leichter sein. War es nicht erst der Anblick der Welt, der mich in meine eigene Verbannung gelockt hat?

Sie schüttelte den Kopf. »Ihre Augen funktionieren. Sie sehen trotzdem nicht das Wesentliche.«

Wie gerne hätte ich gewusst, was für dieses Mädchen das Wesentliche war. Doch ihre gesamte Haltung drückte aus, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte. Außerdem hatte sie sich entschieden, dem zu entkommen, also wollte ich sie entkommen lassen.

Wir erklommen einen Berg und ließen uns an einer seiner vielen Kanten nieder. Von hier aus überblickten wir das ganze Tal.

»Wie klein die Lichter aussehen«, staunte das Mädchen. Nach dem Aufstieg war ihr Gesicht gerötet.

»Sieh gut hin«, forderte ich sie auf.

Gespannt beugte sie sich nach vorne und ich befreite den Sturm. Wie eine Welle jagte das Eis über die Bäume, ließ sie erstarren. Der Wind hatte keine Zeit, traurig über sein verlorenes Spielzeug zu sein, denn die Wolken öffneten sich und Schnee, Unmengen Schnee, brachen auf uns herab.

»Wow«, hauchte das Mädchen und erzitterte im Wind.

Ich rutschte näher an sie heran und sie tat es mir gleich, bis sie in meinen Armen lag. Dort würde sie keine Wärme finden, nur Schutz vor dem Sturm.

Aber es war ihre Entscheidung und ich hielt sie, so lange und so gut ich konnte.

Eine Kurzgeschichte von Sara G. Haus

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