»Nick, wegen heute Abend …« Ruprecht platzte in das Arbeitszimmer mit der Inschrift ‚St. Nikolaus’ und blieb abrupt stehen. Dunkle Stimmung stieg ihm in die Nase und er atmete genüsslich ein. Nick saß in aromatisch herbe Gedanken versunken an seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen zwei mit Mandarinen und Nüssen gefüllte Säckchen sowie zwei kleine Grußkarten. Gedankenverloren starrte Nick sie an, dabei spielte er mit seinem Füller.
»Wieder Marie und Anna?«, fragte Ruprecht.
Zur Antwort bekam er nur ein tiefes Seufzen und einen weiteren aromatischen Schwall Dunkelheit.
»Ich dachte, Gevatter Tod hätte sie längst geholt«, unterbrach Ruprecht die Stille. »Du hättest mir wenigstens einmal erlauben sollen, die zwei kleinen Biester in den Sack zu stecken. Vielleicht dieses Jahr?«
Keine Antwort. Ruprecht knuffte Nick in die Schulter und fragte: »Hast du die zwei nicht schon vor Jahrzehnten aufgegeben?
Nick sah traurig hoch. »Das war ein Fehler.«
»Und warum jetzt, nach über 40 Jahren?«, fragte Ruprecht.
Nick seufzte wieder. »Ihr Schicksal kreuzt sich gerade. Sie liegen im gleichen Krankenhaus. Fühlen sich beide einsam. Sie müssen sich einfach versöhnen, bevor es zu spät ist.«
»Na, dann tu es. Für dein Seelenheil. Schreib ein paar schnulzige Worte und weg damit.« Ruprecht dachte kurz nach. »Aber verdient haben die zwei kleinen Kröten es nicht.«
Entschlossen zog Nick die Kappe vom Füller, setzte an und zögerte.
»Es ist nur ein klitzekleiner Gesetzesbruch«, flüsterte Ruprecht seinem Freund und Meister ins Ohr, »das kriegt niemand mit.«
Aber Nick legte den Füller wieder hin, stützte den Kopf in die Hände und stöhnte. »Ich kann nicht.«
Ruprecht verdrehte die Augen und wollte etwas erwidern, doch das Telefon klingelte.
Als Nick zum Apparat eilte, ergriff Ruprecht seine Chance. Er tat es nicht für die zwei kleinen Höllenausgeburten. Das war nur für Nick. Hastig schnappte er sich beide Karten und rieb sie zwischen den Handflächen. Anschließend stopfte er sie in die Geschenktüten, die er in seinem großen Sack verschwinden ließ. Ein kurzes Aufleuchten verriet ihm, dass die Geschenke ihren Bestimmungsort erreicht hatten.
»Ich muss kurz weg«, rief Nick, »das Christkind hat einen Nervenzusammenbruch, weil er nicht weiß, wie er mit den ganzen Wünschen dieses Jahr zurechtkommen soll.«
Einige Stunden später platzte Nick wütend in Ruprechts Werkstatt. »Was hast du mit den Säckchen für Marie und Anna gemacht?«
Ruprecht zuckte mit den Schultern. »Verschickt?«
Nick sah ihn entsetzt an. »Und die Kärtchen?«, fragte er tonlos.
»Sind dabei.«
Kraftlos ließ sich Nick auf einen Stuhl fallen. »Was steht drin?«
»Nur, was sie selbst lesen wollen.«
»Wenn du erwischt wirst, werde nicht einmal ich dich in dieser Welt halten können«, sagte Nick mit vor Schreck geweiteten Augen.
Ruprecht winkte ab. »Keine Sorge, ich weiß, wie deine Schrift aussieht. Bei dir werden die schon ein Auge zudrücken.«
Der alte Heilige sprang auf. »Wir holen die Briefe zurück. Sofort!«
Er packte seinen dunklen Knecht am Oberarm und einen Wimpernschlag später befanden sie sich in einer weihnachtlich geschmückten Klinik-Cafeteria. Bartlos, jung und gekleidet wie zwei Pfleger.
»Verdammt, zu spät«, fluchte Nick und starrte zu einem kleinen runden Tisch, an dem sich zwei ältere Damen angeregt unterhielten. Leergegessene Kuchenteller, ausgetrunkene Kaffeetassen und halbvolle Wassergläser standen vor ihnen. Dazwischen die beiden Geschenksäckchen.
Ruprecht war kurz versucht, sich in dem Leid dieses Ortes zu suhlen, doch dann erkannte er seine zwei alten Feindinnen. Marie und Anna, die nie Angst vor ihm hatten, die ihm die Zunge gebläkt hatten, während sie als Dreijährige Händchen hielten, die ihm gemeinsam Fallen gebaut und ihn mit Mandarinen beworfen hatten.
Seine Finger juckten, den beiden an die Gurgel zu gehen, aber Nicks strenger Blick hielt ihn zurück. Wie immer. Sie setzten sich an einen freien Tisch in die Nähe der beiden Frauen und lauschten.
»Wir hätten all die Jahre nicht mit Streiten vergeuden dürfen«, sagte Anna gerade. »Kein Lebensentwurf war besser. Jetzt sind wir alt und trotz unterschiedlicher Wege am gleichen Punkt. Deine Familie lebt ihr eigenes Leben. Mein Ruhm, nein, ich bin längst vergessen.« Anna lächelte traurig. »Und was ist uns geblieben?«
Marie streckte die Hand aus, umschloss Annas Finger und antwortete leise: »Eine Freundin.«
Bei der widerlich süßlichen Szene wurde Ruprecht übel und er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Maries und Ruprechts Blicke kreuzten sich für einen Augenblick. Plötzlich funkelten Maries Augen. Sie beugte sich zu Anna und sagte mit gesenkter Stimme: »Ich weiß nicht, warum ich gerade daran denken muss, aber weißt du noch, unser Gedicht für Knecht Ruprecht?«
Anna lachte. »Unsere Eltern sind vor Scham fast im Boden versunken.«
Marie begann kichernd zu rezitieren:
»Wer hat Angst vor Ruprecht, dem dummen Knecht?«
Wütend sprang Ruprecht auf, doch Nick packte ihn am Arm und sie fanden sich wieder daheim in der guten Stube.
»Gevatter Tod soll sie holen!«, wütete Ruprecht. »Und dafür riskiere ich deinen guten Namen?!«
Nick hob eine Augenbraue, woraufhin sich Ruprecht am Rest seiner Wuttirade verschluckte. »Ich hole nur schnell meinen Sack, dann können wir los«, sagte Ruprecht mit einem unterdrückten Hüsteln und eilte zu seinem Schuppen.
Unterwegs beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Was, wenn ihm die magische Liga doch auf die Schliche kam? In menschliche Schicksale einzugreifen, war strengstens verboten. Als er sich den Sack über die Schulter warf, sah Ruprecht auf dem Werktisch sein Handy liegen. Er zögerte kurz.
»Wo bleibst du?«, rief Nick
»Komme!« Ruprecht schnappte sich das Handy, loggte sich in Christmas-Book in Nicks Account ein und setzte hastig einen Post ab:
»Nach 40 Jahren eine tot geglaubte Freundschaft wiederbelebt. Nur mit Mandarinen und Nüssen! Egal wie groß und wie alt, jeder Streit kann geschlichtet werden.«
Beflügelt eilte Ruprecht zurück.
»Wir können los!« Noch während er sprach, ploppte vor Nicks Nase ein Brief mit einem Siegel der Weihnachtsliga auf. Adressiert an St. Nikolaus.
Mit gerunzelter Stirn riss der Heilige den Umschlag auf. Ruprecht biss sich auf die Lippe. Verdammt. Das ging schnell. Aber zum Glück waren sie der richtigen, genauer der falschen Spur gefolgt.
»Sehr geehrter«, überflog Nick murmelnd den Brief, »wir bitten Sie, die Verhandlungen zwischen Santa Claus aus den USA und Ded Moroz, auch bekannt als Väterchen Frost, aus Russland zu übernehmen.«
Nick ließ das Papier sinken und sah ratlos zu seinem dunklen Freund.
»Wie kommen die darauf, dass ich zwischen den beiden Weltmächten der Neujahrs- und Weihnachtszeit vermitteln kann?«
Ruprecht versuchte sich an einem unschuldigen Gesichtsausdruck. »Weil du der Beste bist?«
Ein Beitrag von Lucia Herbst
Wie es mit diesen Verhandlungen weitergeht, könnt ihr in Lucias Anthologie “Dunkle Nächte, stade Zeit” gleich in der ersten Geschichte “Der Weihnachtskonvent” nachlesen.
Worum es bei den Verhandlungen geht und ob es Nick gelingt, zwischen den beiden Platzhirschen der Weihnachtszeit zu vermitteln, könnt ihr in Lucias Kurzgeschichte “Der Weihnachtskonvent” nachlesen, die am 01.11.2021 in der vierten Anthologie der Münchner Schreiberlinge (@Muenchnerschreiberlinge) “Dunkle Nächte, stade Zeit” erschienen ist. Übrigens ist Lucia die Mitherausgeberin dieser Kurzgeschichtensammlung rund um Weihnachten und die Rauhnächte in München und dem Alpenvorland.