Schicksalsstöcke

Türchen 5: Großmutter kommt zu Besuch (Diandra Linnemann)

Da mache ich nicht mit! Was für ein Weihnachten soll das sein? Ihr seid doch verrückt!“ Christina sprang auf. Nur Sekunden später krachte die Tür hinter ihr ins Schloss. Die anderen Familienmitglieder sahen einander über den runden Tisch hinweg an.

„Meine Güte, nicht das schon wieder“, beschwerte Susie sich. Sie hatte für ihre sechs Jahre schon einen sehr erwachsenen Ton am Leib, und ihre Teenager-Schwester ging ihr schnell auf die Nerven. „Warum will sie nicht, dass Großmutter kommt? Sie ist blöd.“

Mutter legte ihre schlanke Hand auf Susies schokoladenverschmierte Patschhand. „Liebling, sag sowas doch nicht über deine Schwester. Sie ist in einem schwierigen Alter.“

„Oh.“ Darüber musste Susie nachdenken. „Ich glaube, dann werde ich lieber direkt erwachsen. Teenager sein klingt schrecklich kompliziert.“

Die Eltern lächelten einander an. In der Mitte des Tisches flackerten Kerzen, deren Schein auf der glänzenden Tischplatte und in ihren Augen reflektiert wurde. Der restliche Raum lag im Dunkeln. Es roch nach Bienenwachs, winterlichen Gewürzen und frisch geschlagenem Fichtenholz. Sie hatten das Zimmer weihnachtlich geschmückt, mit reichlich Dekoration auf jeder ebenen Oberfläche.

„Ich frage mich, warum sie deine Mutter nicht mag“, sagte Mutter nach einer Minute des Schweigens.

Vater zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Früher schienen sie gut miteinander auszukommen. Bevor … du weißt schon. Vielleicht ärgert sie sich, dass wir nicht mehr gemeinsam zur Kirche gehen?“

„Wahrscheinlich hast du Recht. Ich sehe später nach ihr, vielleicht will sie reden. Aber jetzt sollten wir erst einmal alles vorbereiten, und die Einladung muss auch auf den Weg gebracht werden. Das Gratin im Ofen wartet nicht gerne, wie du weißt.“ Und sie schenkte ihm ein süßes Lächeln. Nach all diesen Jahren war ihre Ehe immer noch glücklich, und sie hatte sich nie an ihrer Schwiegermutter gestört. Ein Blick Richtung Kaminsims zeigte eine Armee von Familienfotos, vor denen die Familie sich im Winter gerne auf flauschigen Kissen versammelte, um im Schein der Flammen Geschichten zu erzählen. Dazu gab es Tee und Kakao, und manchmal Glühwein für die Erwachsenen. Passend zur Jahreszeit türmten sich Decken und Kissen in den traditionellen Farben auf dem Boden – tannengrün und weihnachtssternrot.

„Also dann. Gibt es irgendetwas Besonderes, das ihr dieses Jahr gerne unternehmen würdet?“

Susie hob die Hand. Ein fünffingriger Schokoladenfleck wurde auf der weißen Tischdecke sichtbar. In seiner Mitte prangte eine der winzigen mit silberfarbenem Garn gestickten Schneeflocken, die Mutter vor langer Zeit in den feinen Stoff gestickt hatte. Damals war sie noch jung gewesen und hatte sich bis zur Geburt ihres ersten Kindes mit Handarbeit beschäftigt. Damals hatte sie keine Ahnung gehabt, wie ihr gemeinsames Leben sich entwickeln würde.

Auch Vater sah auf die Schneeflocke und dachte daran, wieviel Glück sie gehabt hatten. Tolle Kinder, interessante Arbeit, ein gemütliches Haus in guter Lage – und nach all diesen Jahren scheute seine Frau keine Mühe, um es ihrer Schwiegermutter trotz aller widriger Umstände am Weihnachtsabend im Kreis ihrer Lieben gemütlich zu machen.

„Was möchtest du machen, Susie?“

„Ich möchte etwas auf der Geige vorspielen. Nach dem Essen. Wenn alle Geschichten erzählen. Und dann spielen wir gemeinsam.“

„Das klingt wunderbar!“ Mutter lächelte. Susie hatte erst vor kurzem angefangen, Geigenunterricht zu nehmen. Bis jetzt klang jedes Geräusch, dass sie ihrem Instrument entlockte, als käme es aus einer Folterkammer. Aber sie war so stolz auf ihre Fortschritte. Sicher konnten sie sich ein kurzes, wackliges Liedchen anhören. Sie meinte es ja nur gut.

Mit zierlichen Buchstaben notierte Mutter den Vorschlag in ihrem Büchlein. „Sehr gut. Möchten wir noch etwas verändern?“

„Warum sollten wir etwas ändern? In den vergangenen Jahren hatten wir an Weihnachten immer sehr viel Spaß!“

„Du hast ja Recht, Schatz.“ Wieder lächelte sie ihn an. Weihnachten machte immer so viel Arbeit, aber sie beschwerte sich nicht. Das Dekorieren und Einkaufen machte ihr richtig Spaß, genau wie Kochen und Backen. Sie liebte es, ihr Haus in das perfekte Feiertagsheim für die Familie zu verwandeln, und sie liebte es auch, wenn ihre Kinder spontan Freunde mitzubringen, um diese besondere Wärme zu teilen.

„Gut, dann lasst uns alles vorbereiten.“

„Sollten wir Christina nicht dazuholen?

„Nein, zu dritt klappt das schon. Außerdem möchte ich deine Mutter nicht länger warten lassen. Bestimmt denkt sie schon, wir hätten sie dieses Jahr komplett vergessen.“ Mutter drehte den Kopf und sah ihre jüngste Tochter an. „Susie, Liebling, holst du bitte das Ouijabrett? Und jetzt fassen wir einander an den Händen und denken an unsere geliebte Großmutter im Jenseits …“

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