Beige hinterlegte Grafik mit dem Text (v.o.n.u.) Der Kalender 2021, verschnörkelter Rahmen mit Glodfunken und Federn, 12 Fantastische Kurzgeschichten aus dem Nornennetz Jeder Monat zum Download oder Ausdrucken.
Schicksalsstöcke

Kalender 2021: November

Das Kalenderblatt

Da dies ein Kalenderblatt ist, könnt ihr es hier downloaden und ausdrucken.

Leider passt nicht die gesamte Geschichte auf die grafische Darstellung, deswegen gibt es diesen Beitrag:

Seine Königin der Asche


„Was tust du hier?“, fragte Rose erschrocken.

Das Mädchen zuckte zusammen.

Wie hatte Rose nur nicht bemerken können, dass sich noch jemand in der Höhle aufhielt? Rabenschwarze Kulleraugen starrten sie an. Das magere Gesicht war verdreckt und ängstlich.

Rose hatte am Eingang ihres Versteckes gesessen, die Beine über den Abgrund baumeln lassen und in die Ferne gestarrt. Den Eindringling hatte sie erst entdeckt, als sie einige Nüsse aus ihrem geheimen Vorrat holen wollte. Ein Schatten, der sich in eine Ecke am Boden presste, wie ein verwundetes Reh. Tja, die Nüsse waren bestimmt weg.

Das Mädchen sah so aus, als könne es jeden Bissen vertragen. Roses erster Schreck wich Mitleid. Es vertrieb auch die eigentlichen Sorgen, weshalb sie in ihre Höhle geflüchtet war.

„Hab keine Angst. Ich tu dir nichts.“ Rose streckte dem Mädchen eine Hand entgegen.

Es drückte sich panisch an die Wand.

„Nicht anfassen!“ 

„Natürlich.“ Rose zog die Hand zurück. „Ich bin Rose Weißdorn. Wie ist dein Name?“

Das Mädchen schwieg lange.

„Ich will gehen“, sagte es schließlich.

Rose zögerte. Sie war in die Höhle geflüchtet, weil ihre Schwestern Lilly, Viola und Jasmin sich schon wieder gegen sie verbündet und sie gehänselten hatten. Als Jüngste im Bunde hatte sie es wirklich nicht leicht.

„Du hast gar keine Gabe geerbt“ hörte sie noch Lillys gehässige Stimme.

„Du hast auch den falschen Namen“, spottete Viola.

„Genau,“ stimmte Jasmin zu. „Eine Rose sollte doch wenigstens schön sein.“

Da war Rose in ihre Höhle gerannt und hatte geweint. Jetzt aber, da sie dieses bemitleidenswerte Geschöpf in der Ecke kauern sah, zusammengefaltet wie eine Decke, mit so wenig Fleisch an den Knochen, dass Rose ganz Angst und Bange wurde, vergaß sie den Spott der Schwestern. Was für ein schlimmes Leben musste ein Mädchen haben, wenn es so aussah und Schutz in einer Höhle suchte.

„Aber ich kann dir vielleicht helfen“, bemerkte Rose.

„Mir kann keiner helfen.“„Weshalb das denn?“ Rose streckte erneute die Hand aus. 

Das Mädchen sprang auf. „Nicht anfassen!“

Rose wich zurück: „Klar, entschuldige.“ Selbst eine arme Bettlerin wollte nichts mit ihr zu tun haben. „Ich dachte nur … weißt du …du bist hier in den Hochebenen des Westens. Das ist Hexenland. Wir sind alle Hexen in unserer Familie, also alle Frauen.“ Sie stockte. Es stimmte ja nicht ganz, was sie sagte. „Na ja, ich noch nicht. Meine Gabe will einfach nicht erscheinen. – jedenfalls meine Mama, die ist eine ganz tolle Hexe. Was immer es ist, sie kann dir vielleicht helfen.“

Die großen dunklen Augen blickten sie misstrauisch an. Das Schwarz war unergründlich. Als sähe man in einen unendlich tiefen Brunnen. Jetzt, da das Mädchen aufrecht stand, war es ein bisschen größer als Rose, wirkte aber noch magerer in seinen zerschlissenen Kleidern. Der armselige Anblick wurde verstärkt durch die zu allen Seiten stehenden verfilzten schwarzen Haare.

Das Mädchen blickte zum Ausgang und Rose trat weiter zurück.

„Hast du noch mehr Nüsse?“, fragte das Mädchen.

„Außer denen in der Holzdose?“ Also hatte sie sie gegessen. „Nein. Das war mein ganzer Vorrat. Sagst du mir jetzt deinen Namen?“

Wieder schwang der Blick des Mädchens zum Ausgang. Dann abschätzend zu Rose zurück. „Ich bin Dira.“

„Dira, das klingt schön.“

„Was ist denn deine Gabe?”

„Na ja, genau weiß es niemand, aber meine Schwester Lilly kann das Licht lenken, nur durch ihre Gedanken. Viola kann mit ihrem Kuss oder einem Hauchen Dinge verändern, zum Beispiel die Form oder die Farbe, und Jasmin kann den Duft einer Blume einfangen und irgendwo ganz anders wieder freigeben. Wir entstammen einer langen Linie von Sinneshexen. Selbst mein Bruder Buxus, der ja ein Mann ist und deshalb eigentlich keine magischen Kräfte haben dürfte, hat ein außergewöhnlich scharfes Gehör. Vermutlich müsste ich irgendetwas können, wenn ich Dinge berühre. Aber bislang ist nichts Außergewöhnliches passiert.“

Dira starrte sie unbewegt an. Etwas unheimlich wurde ihr das Benehmen des fremden Mädchens schon.

„Was kann deine Mutter?“

„Ganz viel. Sie kann zum Beispiel Wasser und Wind lenken. Mit Sprüchen Pflanzen über Nacht wachsen und erblühen lassen und … ach du musst es erleben. Komm mit.“ Diesmal streckte Rose zu schnell die Hand vor, sodass Dira es nicht abwehren konnte. Rose fasste das Mädchen am Oberarm, der fast so dünn war wie einer der Knochen, die man Hunden gab. Umgehend erhielt Rose einen seltsamen Schlag, der ihr durch den ganzen Körper fuhr. Im nächsten Moment wusste sie alles über Dira, wo sie geboren worden war, warum sie hilflos durch die Lande irrte und warum man sie nicht berühren durfte. Roses Gabe war erwacht.

Aber das Mädchen sah sie verzweifelt an. Tränen füllten den schwarzen Brunnen ihrer Augen. Rose bemerkte eine eigenartige Schwäche an sich, als fließe etwas aus ihr heraus.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so sein würde“, flüsterte Rose verwundert.

„Es tut mir so leid!“ Diras Stimme brach. „Ich … ich hätte es sofort sagen müssen. Ich bin verflucht!“

Erstaunt sah Rose an sich herab. Ihre Beine zitterten. Das lag daran, dass sich ihre Füße auflösten. Sie wurden schwarz und ähnelten zerfallender Asche. Abrupt fiel sie zu Boden. Dira stürzte zu ihr, aber traute sich nicht, Rose zu berühren.

„Ich wollte das nicht! Ich wollte das wirklich nicht. Es tut mir so leid.“

„Ich weiß“ entgegnete Rose mühsam. Es war seltsam, sie fühlte überhaupt keine Angst. Sie war ganz ruhig und klar, denn sie kannte die Zukunft. Sie musste es nur noch Dira sagen. „Der Dämon, der neben dir wandert, der jetzt meine Seele frisst, der ist der Schuldige. Ich habe sehe ihn. Er macht dich zu seiner Königin der Asche. Aber du kannst ihn …“

Die Worte wollten nicht mehr über ihre Lippen. Niemals hatte sie gedacht, dass sich Sterben so anfühlen würde. So leicht, so ohne Widerstand.

Ob Dira noch etwas sagte, wusste Rose nicht mehr. Sie verlor sich im Luftstrom der saugenden Kreatur.

Ein Beitrag von Jana Jeworreck.

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