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Schicksalsstöcke

Halloween-Fortsetzungsgeschichte „Das Haus der toten Kinder“

Auf dem Weg zu dem alten Hotel fragte sich Belinda Grimm fortwährend, wieso sie auf so eine Schnapsidee gekommen war. Es war eine Sache, an einem unbekannten Ort zu übernachten, aber eine völlig andere, ein verlassenes, zum Teil verfallenes Hotel aufzusuchen, um das sich unzählige urbane Legenden rankten, seit es vor einem halben Jahrhundert von einem auf den anderen Tag einfach geschlossen worden war.

„Verdammt“, murmelte sie und ballte die Fäuste, die ob der Kälte in ihren ausgebeulten Manteltaschen steckten.

„Entspann dich“, erwiderte ihr Freund Maddock, der sich dazu bereit erklärt hatte, ihr in der Nacht Gesellschaft zu leisten.

“Ich glaube, wir sind da”, setzte er hinzu und deutete auf ein schmiedeeisernes Tor, das aus der Dunkelheit vor ihnen auftauchte. 

Langsam ging Belinda darauf zu, rüttelte daran und sprang erschrocken rückwärts, als es sich mit einem Quietschen öffnete. Vor ihnen breitete sich eine von Tannen gesäumte Allee aus, deren Endpunkt sich in der Finsternis verlor. Ein ungutes Gefühl beschlich Belinda. Es war beinahe, als würde jemand sie beobachten, doch sie konnte niemanden entdecken – Maddock und sie standen ganz allein vor dem unbelebten Grundstück.

„Auf was habe ich mich da nur eingelassen?“, dachte sie noch, bevor sie das Grundstück betrat.

Der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Das einzige Geräusch im Schweigen der Nacht. Nicht einmal die Tannen regten sich.

„Echt spooky, was?“ Maddock ließ den Blick umherschweifen. 

Belinda versuchte, auf nichts zu achten. Nicht auf ihn, nicht auf das Gebäude am Ende des Weges, und vor allen Dingen nicht auf das Unbehagen, das sich in ihrer Brust zusammenbraute. Memme! Sag bloß, du glaubst den Quatsch mit den Kinderleichen. Zugegeben, merkwürdig waren die Geschichten im Internet schon. Vor allem, dass die Vermisstenfälle aufhörten, als das Hotel dichtgemacht worden war …

Ach komm. Internetgeschichten halt. Sie versuchte, sich wieder auf ihre Schritte zu konzentrieren. Die Gleichmäßigkeit beruhigte sie. Aber irgendetwas war seltsam. Da waren ihre Schritte und … “Maddock?”

Eilig drehte Belinda sich um. Der Kiesweg hinter ihr lag verwaist im silbrigen Mondlicht.

„Wir werden dich kriegen! Knähähähähähä!“, ertönte eine heisere Stimme.

Panik stieg in ihr auf. Gehetzt sah sie sich um, als ein Schatten auf sie zu stürzte.

„Ha, hab dich dran gekriegt!“, gluckste Maddock, der neben ihr aus einem Gebüsch gesprungen war. „Mach dir mal nicht ins Hemd, ich pass schon auf dich auf.“ Mit großspuriger Geste klopfte er ihr auf die bebende Schulter und fing sich direkt einen Knuff auf den Oberarm ein.

“Vollpfosten, blöder!“, zischte Belinda und stapfte mit geballten Fäusten weiter.

Wie hatte sie sich von ihm nur so erschrecken lassen können? Belinda atmete tief durch und dachte daran, warum sie hier war. Sie würde sich zu nichts mehr überreden lassen! Von niemandem! Legenden erforschen, Hotel besichtigen, beweisen, dass es hier keine Kinderleichen mehr gab und dieses Gebäude einfach nur alt und verfallen war. Belinda würde ihren eigenen Gedanken gerne glauben, wären da nicht dieses unsagbar schlechte Gefühl in ihrem Magen und dieses Kribbeln im Nacken. Vor Maddock würde sie es nie zugeben, aber sie war sich sicher, hier einen Fehler zu machen.

Vor ihr ragte endlich das alte Hotel auf. Sie holte erneut tief Luft, stieg die steinernen Treppen hoch und stieß die angelehnte Tür auf.

Staub und Spinnweben, eine Ruine hatte sie erwartet, aber nicht das. Die Lobby, die sie betrat, sah aus, als sei sie erst gestern verlassen. Gut, der Teppich war etwas verblasst, aber sonst? Belinda drehte sich um. “Maddock?”
Er hustete und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum. “Was für eine Bruchbude! Könnte mal wieder eine Grundreinigung gebrauchen.”
“Bruchbude, aber das …” Als Belinda wieder in die Lobby schaute, war der Teppich zerschlissen, die Treppe ins Obergeschoss zerborsten, morsche Balken lagen im Weg. Sie schüttelte  den Kopf. “Für einen Moment dachte ich …”
“Du denkst immer viel zu viel, Schätzchen”, triezte Maddock. “Komm, suchen wir uns einen Schlafplatz.”

Ihre Wahl fiel auf den Essbereich hinter dem Empfang. Staub wirbelte im Licht ihrer Taschenlampe und tanzte zwischen schmutzigen Fenster und Resten von Tischen und Stühlen. Belinda ließ den Blick schweifen. Die Stille wurde nur von Maddocks Summen und dem Knarzen der alten Balken durchbrochen, während er Platz für die Schlafsäcke schaffte – und einem Schluchzen.
“Hörst du das?” Belinda drehte sich um, doch Maddock war fort. Statt ihm blickte ihr ein Kind entgegen.
“Eloise! Träumst du schon wieder?!”, rief jemand.
“Nein Mama!” Das Mädchen rümpfte die Nase und sah sie an. „Du darfst gar nicht hier sein. Oder willst du mich auch holen? Es spielt nicht gerne Verstecken.“

Belinda wich erschrocken zurück. Ihr Puls war von Null auf Hundert geschnellt. Sie stieß gegen etwas und fuhr herum.

„Buh!“ Maddock lachte.„Du bist echt schreckhaft. Mann, jetzt relax doch mal.“ 

Für einen Moment war er Belinda sehr unsympathisch. Sie schlug ihn halbherzig mit der flachen Hand auf den Arm. „Das ist echt nicht mehr witzig“, pflaumte sie ihn an.

Vorsichtig blickte sie wieder in den Essbereich. Kein Kind war zu sehen, nur Staub und zerfallende Materialien. Sie breitete ihre Isomatte und ihren Schlafsack aus, setzte sich mit dem Rücken an eine Wand gelehnt und zog die Beine an.

“Halt´s Maul, du dumme Göre!”, schrie Maddock plötzlich auf.
Belinda riss den Kopf nach oben. Er stand direkt vor ihr und blinzelte verstört an ihr vorbei auf die Wand.
Ein eiskalter Schauer erfasste ihr Herz. “Maddock, was … was siehst du?”, stöhnte sie.
Da begann er schallend zu lachen. “Was soll ich denn sehen? Kinderleichen – oder was?”
Sein Spott machte sie wahnsinnig. Sein blödes Grinsen konnte sie nicht mehr sehen. Aufgebracht strich sich Belinda übers Gesicht. “Ich kann hier keine Sekunde länger bleiben! Ich muss hier raus!”

Schnell packte sie ihre Sachen und wollte an Maddock vorbeirennen, doch dieser versperrte ihr den Weg. 

“Iss deinen Brei auf, oder es gibt heute Nacht keine Gute-Nacht-Geschichte, mein Schatz.” Er hatte immer noch ein breites Grinsen auf den Lippen, doch seine Augen schauten geradewegs an ihr vorbei. Sie folgte seinem Blick. An der Wand war ein Riss, auf dem Boden davor ein dunkelroter Fleck. Der war vorher definitiv noch nicht dagewesen!

Maddocks Stimme klang tief und das Lachen, das er danach anstimmte, war dumpf und emotionslos, als würde es von einem Computer stammen. Oder aus dem tiefen Schlund der Hölle.

Belinda wich vor ihm zurück. „Maddock, was ist los mit dir? Das ist echt nicht mehr witzig, du Arsch!“

Doch Maddocks Blick war weiterhin auf die Stelle hinter ihr geheftet. Er kam beständig näher, drängte sie zurück. Sie riskierte einen Blick über die Schulter – aber der Riss und die Blutlache waren verschwunden. Die Lobby des Hotels sah so aus wie vor der abrupten Schließung. Und Maddock… war nicht mehr Maddock. Stattdessen sah sie sich einer Kreatur aus Schatten gegenüber. Dort, wo gerade noch das vertraute Gesicht ihres Freundes gewesen war, starrten ihr tiefe Löcher entgegen.

Sie schrie.

* * *

“Echt jetzt? Kinder?”

“Ja, mindestens drei. Man fand sie immer am Morgen in der Lobby, stocksteif wie lebensgrosse Puppen. Neben ihnen ein Blutfleck, und in der Wand dahinter ein seltsamer Riss.”

“Ist das gruselig.” Die junge Frau schüttelte ihre blonden Locken, während sie weiter mit dem Handy filmte.

“Keine Angst”, tönte ihr Begleiter. “Ich beschütze dich. Der alte Gruselschuppen kann … “ Er stockte, als er eine Gestalt in der Ecke wahrnahm.

“Willkommen in unserem Hotel.” Belindas Stimme klang trocken und brüchig wie Herbstlaub. Sie drehte sich langsam um, und die beiden sahen nur noch das Grinsen auf ihrem Gesicht und die tiefen schwarzen Löcher, wo einst ihre Augen gewesen waren. 

Eine Gemeinschaftsaktion von und mit: Sophie Grossalber, Stephanie Helmel, Jule Reichert, Jana Jeworreck, Katharina Rauh, Roxane Bicker,  Anna-Birke Lindewind, Saskia Dreßler,  Juliane Schiesel, Catherine R. R. Snow, P.P.Hasler und Stella Delaney

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