Schicksalsstöcke

Türchen 3: Weiß wie Schnee (Diandra Linnemann)

Stille, in der man nur den Schnee unter den Schuhen knirschen hört – gibt es das echt? Die Sonne drückt sich irgendwo hinterm Horizont rum, es ist gerade eben nicht mehr ganz dunkel. Die Schatten schimmern beinahe violett. Um diese Zeit fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass auf der anderen Seite des Flusses Geister zwischen Inseln von Fichten und kahlen Laubbäumen hausen, in den Nebelschwaden und raschelnden Blätterhaufen. Trotzdem, ein Vogel zwitschert – Protest gegen die Kälte.

Zur ihrer rechten plätschert ein Bach. Die Schrebergärten sind verlassen, ein trostloser Anblick. Nur wenige haben sich die Mühe gemacht, für das Fest zu schmücken. In einem Garten glitzern Christbaumkugeln unter dem Vordach einer verwitterten Hütte. Ein Sonnenstrahl schwingt sich über den Horizont, trifft auf das bunt bemalte Glas und zerspringt in tausend gleißende Splitter. Wie auf Kommando fallen zwei Meisen über das Vogelhäuschen her. Körner spritzen durch die Luft und hinterlassen winzige Krater, wo sie auf die unberührte Schneedecke fallen. Im Sommer werden an dieser Stelle Sonnenblumen im Abendwind nicken. So bringt jedes Opfer neues Leben hervor.

In den Schatten leuchtet der Schnee blau. Wo die Sonne ihn bereits berührt, rötet er sich schüchtern. Die längste Nacht liegt hinter ihr, die wilde Jagd fliegt über das Land und eine rote Spur führt ins Unterholz. Es könnte Preiselbeersaft sein. Sorgfältig wischt sie sich die Hände ab und stapft hügelaufwärts, ohne sich umzusehen. Bald wird frischer Schnee fallen und ihre Spuren bedecken.

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Bianca
Bianca
4 Jahre zuvor

DAS musste gerade 2x lesen… *schauder*
Ein kleines Meisterwerk 3:)