CN: Mord mit grafischer Beschreibung / Enthauptung, Darstellung eines toten Körpers, Blut, Benutzung einer Schusswaffe
Sie hatten Wachposten und Kameras, doch was brachte all das, wenn jemand vergaß die Fenster zu schließen?
So lehnte Daniel nun in einer dunklen Ecke an einem Bücherregal und starrte die Bürotür an. Sein Blick wanderte immer wieder von dort zu der großen Standuhr hinter dem Schreibtisch. Der Sekundenzeiger schien in Wachs getaucht zu sein, so langsam bewegte er sich.
„Ich könnte schon längst wieder zurück sein und mich mit anderen Dingen beschäftigen. Wichtigeren Dingen“, murmelte er und kratzte sich am Bart.
„Papa muss nur eben noch ein paar Dinge erledigen, dann liest er dir vor“, sprach eine sonore, tiefe Männerstimme vor der Tür.
Daniel richtete sich auf. Seine rechte Hand fuhr instinktiv an die Pistole an seinem Gürtel. Die Muskeln in seinem Körper verkrampften sich. Mit dem Mittelfinger der linken Hand schlüpfte er durch einen Metallring, der unter seinem Mantelärmel hervorlugte.
Die Tür öffnete sich. Licht fiel vom Flur in das dunkle Büro und er trat herein. Dunkler Anzug, schulterlange Haare und eine tiefe Brandnarbe an seinem Kinn. Daniel atmete tief ein, hielt die Luft an. Die Tür schloss sich wieder. Es war dunkel.
„Nur noch eben etwas Papierkram erledigen, dann ab zu meiner Kleinen“, hörte Daniel sein Ziel murmeln.
„Nicht nötig“, dachte Daniel und trat hervor.
Der Mann erschrak, Panik stand in seinem Gesicht, als er den Attentäter vor sich erblickte. Daniel hob seine Pistole, visierte den Kopf an und drückte ab. Lautlos verließ die Kugel den Lauf. Zeitgleich streckte er den Mittelfinger, worauf der Ring nach vorne geschleudert wurde und eine Schnur hinter sich her zog. Diese legte sich um den Hals des Opfers. Daniel wickelte die Schnur mehrmals um seine Hand und zog sie an sich heran.
In dem Moment, in dem die Kugel genau zwischen die Augen traf, durchtrennte die Schnur Knochen, Gewebe und Muskeln im Hals. Der Kopf flog genau auf Daniel zu. Ruhig ließ er die Schnur los, griff in eine Tasche an seinem Hosenbein und holte einen Stoffbeutel heraus. Mit diesem fing er den Kopf sicher ab.
Der Körper landete auf dem Teppich. Daniel atmete aus. Es war ein langer Ausatmer, gepaart mit einem Seufzer. Vorsichtig sicherte er seine Pistole wieder und steckte sie zurück in ihren Platz. Dann fasste er sich mit zwei Fingern an den Hals. Kräftig und zu schnell schlug seine Schlagader gegen die Haut. Da es noch still blieb, nahm er sich die Zeit und konzentrierte sich auf seine Atmung.
Ein….und aus. Ein…. und aus.
Als die Schläge wieder ruhiger geworden waren, senkte Daniel die Hand und verschnürte den Beutel. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, warf er sich den Beutel wie einen Sack über die Schulter. Durch das offene Fenster glitt er in die Nacht.
Auf den Straßen von Phoenix war es still. Daniels Schritte hallten an den massiven Hauswänden wieder. Sein Schatten zuckte verzerrt vor ihm her, verschwand wieder, nur um kurz danach an der nächsten Wand wieder aufzutauchen. Die ersten Schneeflocken rieselten herab.
Daniel blieb stehen und blickte zum pechschwarzen Nachthimmel.
„Echt jetzt?“, murmelte er.
Als Antwort landete eine Flocke auf seiner Nase, wo sie schmolz und einen kalten nassen Film hinterließ. Daniel schlug den Kragen seines Mantels hoch.
„Wäre es zu viel gewesen, wenn noch etwas damit gewartet wird? Zumindest, bis ich zu Hause bin?“
Er erwartete keine Antwort auf seine Gemecker, es musste einfach mal raus. Aber für wenige Sekunden glaubte er ein Lachen von dort oben zu hören. Er schüttelte den Kopf.
„Unsinn. Du hast schon wieder zu wenig geschlafen. Bring den Job zu Ende und dann leg dich hin.“
Seine Schritte beschleunigten sich. Sein Ziel, die große Zentralbank am anderen Ende der Straße, kam immer näher. Plötzlich glaubte Daniel, dass er verfolgt wurde. Da war jemand hinter ihm, er war sich sicher. Wie ferngesteuert griff er erneut nach seiner Pistole und wirbelte herum. Die Schneeflocken landeten auf dem Lauf seiner Waffe. Eine Laterne flackerte. Er war alleine.
„Du drehst durch, Daniel“, schalt er sich selber
Etwas später warf er den Stoffbeutel schwungvoll auf den Schreibtisch von Herrn Schmidt. Der Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht griff hinein und holte den Kopf an den Haaren heraus.
„Sieht gut aus, Kleiner.“
Ohne hinzusehen warf er die Trophäe in einen leeren Kasten neben seinem Tisch. Daniel steckte den Beutel in die Tasche.
„Mein Geld?“, hakte er nach.
Schmidt blätterte durch den Ordner, der vor ihm lag. Daniels Blick wanderte nach draußen. Mittlerweile war der Schneefall stärker geworden. Am Fenster bildeten sich die ersten Linien aus Weiß. Hier oben drang nur ein bisschen Licht durch das Glas. Das viel zu kleine, vollgestopfte Büro mit seinen zwei Insassen spiegelte sich verzerrt darin. Daniel konnte sich selber darin sehen. Knielanger Mantel, kniehohe Stiefel, Pferdeschwanz und Bart. Er sah so überhaupt nicht nach dem Typen aus, der für ein paar mickrige Moneten Leben auslöschte.
Plötzlich tauchte eine verzogen Fratze in der gesamten Scheibe auf. Kurz erinnerte sie an einen alten Mann mit langem Bart, wurde dann jedoch zu einem schrecklich entstellten Gesicht. Die Haut lief wie Wachs herunter, die Augen waren nicht vorhanden.
„Alles klar, Kleiner?“, fragte Schmidt. Daniel sah ihn an.
Ruckartig blickte er den Mann auf der anderen Seite an.
„Ich… warum fragst du?“
Seine Stimme zitterte, was ihm übel aufstieß. Schmidt deutete auf seine rechte Hand. Diese lag auf dem Griff der Pistole.
„Ich würde es begrüßen, wenn du deine Waffe innerhalb der Bank stecken lassen würdest.“
Daniel hatte unwillkürlich danach gegriffen. Schmidt blätterte erneut durch den Ordner. Nur sehr schwer konnte Daniel seine Finger vom feinen Eschenholz des Griffs lösen. Nachdem er es dann doch geschafft hatte, schmerzte diese. Während er mit der linken Hand die einzelnen Finger massierte, schaute er wieder zum Fenster. Doch dort war nur die Spiegelung des Zimmers.
Daniel wollte es nicht provozieren, das Gesicht, oder was auch immer das gewesen war, erneut zu sehen. Also wandte er sich wieder an Schmidt.
„Was ist jetzt mit meinem Geld?“ Erleichtert stellte er fest, dass seine Stimme sich wieder gefangen hatte.
„Geduld ist eine Tugend.“
„Über die ich nicht verfüge.“
„Und wer wartet dort auf dich?“, fragte Schmidt und ein Anflug von Frechheit zuckte über sein Gesicht.
Daniel antwortete nicht. Der Schreck in seinem Körper wurde von Wut davon geschwemmt. Er konnte spüren, wie seine Nasenlöcher sich weiteten, als seine Atmung überdeutlich tiefer wurde. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Schmidt sah kurz auf.
„Wir wissen beide, dass du mich nicht töten wirst. Also spar mir die Vorstellung.“
Schmidt hielt auf einer Seite an. Aus einem kleinen Fach, welches sich auf dem Papier hervor wölbte, holte er mehrere Geldscheine hervor. Diese reichte er Daniel, welcher sie sofort in seinem Mantel verschwinden ließ.
„Danke“, murmelte er und wandte sich um.
Doch als er in der Tür war, sprach Schmidt ihn noch einmal an.
„Du solltest da draußen aufpassen. Es ist spät, der erste Schnee fällt gerade. Die perfekte Zeit für die Jagd. Solche Leute wie du stehen ganz oben auf ihrer Liste.“
Daniel wandte sich zu Schmidt um. Der Mann hatte den Blick vom Ordner nicht gehoben. Er war dabei, etwas zu notieren.
„Das sind Märchen, die alte Frauen ihren Kindern erzählen, damit sie früh nach Hause kommen“
„Jedes Märchen hat einen wahren Kern“, sagte Schmidt. „Ich bin nur besorgt um dich,
Daniel.“
„Danke, Schmidt, ich weiß deine Sorge zu schätzen. Aber mein Weg ist nicht mehr allzu weit. Im Notfall renne ich der Jagd davon.“
Er lachte ein nervöses Lachen, was Schmidt unkommentiert ließ.
„Pass auf du auf dich, Schmidt“, verabschiedete Daniel sich.
„Ich stehe nicht auf der Liste der Jagd“, warnte Schmidt ihn ein letztes Mal.
Draußen zündete Daniel sich eine Zigarette an.
Wilde Jagd. Reiter, die über den Himmel ziehen und willkürlich Leute einsammeln, dachte er und schüttelte den Kopf. Darüber wollte er nicht weiter nachdenken. Sein Abend war noch nicht vorbei, er musste eine weitere Sache erledigen. Mit schnellen Schritten eilte er die Straße runter.
Etwas später stand er auf der anderen Straßenseite des Hauses, in dem er sich vor gut einer Stunde noch befunden hatte. Nun waren alle Fenster hell erleuchtet. Drei schneeweiße Wagen standen auf dem vorher noch schön gepflegten Rasen. Daniel beobachtete aus dem Schatten heraus, wie zwei Personen einen menschengroßen Sack aus dem Haus trugen. Ihnen folgten eine Frau, die ein weinendes Kind auf dem Arm trug. Daniel wurde schlecht.
„Es tut mir Leid“, flüsterte er.
„Wirklich“, sprach plötzlich jemand hinter ihm.
Daniel machte einen Satz nach vorne. Und stieß mit dem Gesicht gegen eine Pferdebrust. Es schnaubte ihm eiskalten Pferdeatem auf den Kopf. Er trat einen Schritt zurück.
Auf dem Rücken des Pferdes saß ein breitschultriger Krieger in voller Kampfmontur. Kalte Augen starrten durch die Schlitze im Helm. Neben ihm standen noch weitere Pferde, die von nicht minder bewaffneten Gestalten geritten wurden. Zwischen den Pferdebeine tauchten schattenhaften Hunde immer wieder auf und verschwanden genauso schnell.
Daniel blickte sich vorsichtig um. Er war eingekreist. Bis auf einen Mann, der direkt hinter ihm stand, saßen alle auf Pferden. Daniels rechte Hand zuckte. Eine eiskalte behandschuhte Hand packte sein Handgelenk so fest, dass es sofort bewegungsunfähig wurde.
„Deine einfachen Waffen helfen dir nicht gegen uns.“
„Lass es mich versuchen. Vielleicht irrst du dich.“
Der Mann lachte. Wie von Geisterhand hob sich seine Kapuze ein Stück, sodass Daniel das Gesicht darunter sah. Ein Auge war unter einer Augenklappe verborgen. Das andere beherbergte das gesamte Universum. Sterne und Planeten drehten sich in ewiger Dunkelheit. Lebewesen wurden geboren und schieden dahin, nur um den Kreislauf wieder zu beginnen. Landstriche erschienen und verschwanden wieder. Welten wurden geschaffen und zerstört. All das in nur einer Sekunde.
Der Mann ließ Daniels Handgelenk los.
„Wer bist du?“, fragte dieser leise, seine Stimme war fast schon ein Hauchen.
„Mein Name ist unwichtig“, sprach der Mann, seine Stimme hallte in Daniels Kopf wider und fuhr durch seinen ganzen Körper. „Wichtig ist, dass du Blut an deinen Händen hast.“
„Ich wünschte, es wäre anders. Aber mir blieb leider keine Wahl.“ Sein Mund bewegte sich wie von selbst.
„Oft haben wir das nicht“, bestätigte der Mann. „Daher sind wir hier. Dein altes Leben ist es nicht wert, weiter gelebt zu werden. Ich gebe dir die Chance auf ein neues Leben.“
Er lehnte sich vor. „Reite mit mir.“
Sein Atem ließ Schneeflocken auftauchen. Daniel sah sich die anderen Reiter an. Hinter den Kriegern erkannte er auch anders gekleidete Personen. Je weiter er sich umsah, desto mehr moderne Kleidungsstücke sah er.
„Was tut ihr?“
„Wir halten das Bösen von dieser Welt fern. Wir geleiten verlorene Seelen an den Ort ihrer Bestimmung. Wir halten die Reiche zusammen.“
Der Mann hielt Daniel die Hand hin. Doch er schlug nicht sofort ein. Noch zögerte er. War es das wirklich wert? Konnte er einfach so alles aufgeben, was er hier hatte, um mit einer Gruppe Toter herumzureisen?
„Und wer wartet dort auf dich?“
Schmidts Worte hallten wie ein Echo durch seinen Kopf.
Daniel schlug ein.
„Ich reite mit dir.“
Der Mann lachte donnernd. Die Reiter um sie herum schlugen sich auf die Brust oder auf die Schilde, was ein bedrohliches Donnern und Brausen durch die Straßen der Stadt fahren ließ.
Als Schmidt am nächsten Morgen wie üblich zu seiner Arbeit kam, fiel ihm etwas im Schneehaufen neben dem Eingang zur Bank auf. Er ging dorthin und bückte sich. Mit einer Hand fischte einen Beutel aus dem Schnee. In diesem fand er mehrere Geldscheine, fein säuberlich zusammengebunden. Überrascht richtete Schmidt sich auf.
“Na schau mal einer an. So wichtig war dem Kleinen das Geld wohl doch nicht”, murmelte er und grinste zufrieden.
Er griff hinein und holte das Geld heraus. In dem Moment, in dem sich seine Finger um das Papierbündel schlossen, frischte der Wind auf. Erschrocken sah Schmidt auf. Seine Kollegen, die eben noch mit ihm zusammen auf die Bank zugegangen waren, standen nun still. Wie erstarrt in der Zeit.
Hinter einem tauchte aus dem Schatten eine Gestalt auf. Eiskalte, tote Augen starrten Schmidt aus der Dunkelheit der Kapuze an. Kalte Angst breitete sich in Schmidts Brust aus. Er wollte rennen, doch konnte sich nicht bewegen.
„Ich… ich wollte nur“, stotterte er, doch seine Zunge erstarrte zu einem Eisblock.
„Oh, ich weiß ganz genau, was du wolltest“, sprach eine ihm nur allzu gut bekannte Stimme in seinem Kopf.
Aus den Schatten tauchte mehr und mehr Gestalten. Sie kreisten Schmidt ein. Die Gestalt mit der Kapuze hob langsam eine Pistole an. Schmidt wollte schreien, doch außer Luft kam nichts aus seiner Kehle. Mit einem lauten Donnern verließ eine Kugel den Lauf der Pistole. Leblos sackte Schmidt in den Schnee.
Daniel senkte seine Pistole und lächelte.
Ein Beitrag von Isabelle Hellwege
Wer mehr über die Wilde Jagd lesen will, kann dies bei Die Wylde Jagd von Janna Ruth, Tina Skupin tun.
Oder in der Rauhnächteanthologie. Dort haben Lucia Herbst und Sarah G. Haus je eine Geschichte über sie geschrieben,