Schicksalsstöcke

Diversität und Weltenbau in der Phantastik Teil 1 von Deborah B. Stone

Vielfalt und ungewöhnliche Gesellschaften oder doch altbekannte Marginalisierungen mit spitzen Ohren?

Anlässlich des 4. Branchentreffs des Phantastik Autoren Netzwerks (PAN) in Köln wurde in Vorträgen, Podien und Workshops unter anderem darüber reflektiert, inwieweit phantastische Literatur gängige Normen und Ausgrenzungen aufheben kann und sollte.

Dabei möchte ich** im ersten Teil dieses Blogbeitrags zeigen, welche Quellen und Vorbilder Autor*innen für ihre Gesellschaftsentwürfe nutzen und welche Chancen und Risiken sich daraus ergeben.

Im zweiten Teil geht es um die Einschätzung, wie viel Realismus die Phantastik braucht, um stimmig zu wirken und die Leserschaft fesseln – und ab wann zu viel der Alltagsrealität mit ihren sozialen (Ab-)Wertungen und Zuschreibungen in die Fantasy und Science Fiction schwappt.

„Fremd und doch bekannt“: Die ungewöhnlichen Welten in der Fantasy und SF-Literatur rekurrieren häufig auf vertraute Quellen

So fantasievoll und überraschend Handlungsorte und Gesellschaften in der Phantastik auch gestaltet sind, beziehen sie sich zumeist auf den westlichen Leser*innen bekannte Länder, Epochen, Sozialsysteme und wissenschaftliche Erkenntnisse.

Unsere Norne Deborah B. Stone will neue Welten erschaffen

Dadurch wird eine Plausibilität erzeugt und über Lieblingsepochen wird ein zusätzlicher Zauber gelegt: In der urzeitlichen Fantasy wird die Menschwerdung und eine Naturmystik imaginiert, das Hochmittelalter als gängiger Schauplatz der High Fantasy bekommt ein magisches Gewand. Schreckensregimes der Moderne werden in futuristischen Dystopien digital perfektioniert, in der Urban Fantasy wird die Gegenwart durch übermenschliche Wesen bedroht oder gerettet. In der Science Fiction werden die großen Themen von Identität, Raum und Zeit mit den Mitteln weiterentwickelter Technik, die heute erst in den Ansätzen steckt, gelöst.

Einen reichen Schatz an Inspiration finden westliche Autor*innen dabei in der Archäologie, in Mythen, Religion/Volksmythos und in der europäischen oder amerikanischen Geschichte.

Settings in Asien, Afrika oder Australien sind in der westlichen Phantastik bisher unterrepräsentiert, da einem breiten Publikum hier wohl das Vertraute im Fremden fehlt, das die Identifikation erleichtern würde. (Eine populäre Ausnahme sind Mangas)

Je nach Welt-Vorbild und geschichtlicher Assoziierung stehen unterschiedliche soziale Thematiken im Zentrum des Romans.

1. Archäologische Funde: „Nackter Kampf ums Leben“

Sexualität, Gewalt und Menschwerdung in der urzeitlichen Fantasy (prehistoric fiction)
(Gedanken zum sozialanthropologischen Vortrag von Dr. Meret Fehlmann, Universität Zürich)
Aus der Steinzeit sind alltägliche Gegenstände, Grabbeigaben und gestaltete Orte erhalten. Über ihren ursprünglichen Zweck können wir vor allem spekulieren.

Was die Archäolog*innen verzweifeln lässt, bringt die Schöpfungskraft von Künsterler*innen und Autor*innen zum Blühen. Besonders spannend sind Fragen, die das Zusammenleben unserer unterschiedlichen Urahnen betreffen: Wie gewalttätig oder naturverbunden war der Neandertaler? Wie gestaltete sich das Nebeneinander von Neandertaler und Homo sapiens? Wie fand die Verdrängung statt? Wie sah unsere Welt in grauer Vorzeit aus?

Unser Bild des Neandertalers und des Urmenschen ist geprägt durch Gemälde des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diese Werke wurden erschaffen im Zeitalter der Industrialisierung und der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Dass in dieser imaginierten Urgesellschaft viel nackte Haut gezeigt wurde, machte sicherlich einen Teil des Reizes aus. Die Rollen von Mann und Frau waren klar definiert und der körperlich stärkere setzte sich durch. Entsprechend gab es vor allem Bilder von Kämpfen Mann gegen Mann.

Diese Visualisierungen wirken in unseren Vorstellungen nach. Auch die „Lost world“-Thematik hat sich erhalten. Allerdings hat sich verschoben, was als bessere/natürlichere Ordnung betrachtet wird: Herrschte in der Vorzeit ein gewalttätiges Patriarchat, das durch die Zivilisation gezähmt wurde oder huldigte Frau und Mann einem Mutterkult und das friedliche Matriarchat wurde von der neuen Menschenart ausgerottet?

In diesen Szenarien vom Ursprung und der Entwicklung der Menschheit liegt eine große Faszination, aber auch die Gefahr der Ideologie:

Jean M. Auels populärer „Ayla“-Zyklus (1980er) zeigt uns eine Protagonistin, die naturverbunden und selbständig lebt, nachdem sie sich vor ihrem unterdrückerischen Clan geflohen ist. Dort wurde sie ständig vergewaltigt. Sie liebt ihren in Gewalt gezeugten flachschädeligen und stummen Sohn über alles und findet später auch großen Gefallen an ihrer Sexualität.

So weit, so emanzipiert.

Allerdings ist Ayla ein Findelkind, das von Neandertalern aufgezogen wurde. Ihre Herkunftsfamilie war rundschädelig, sprechend, hochgewachsen und Ayla lernt viel schneller und eigenständiger als ihr Aufnahme-Clan aus Neandertalern.
Zudem ist Ayla hellhäutig und blond.

Und genau hier wird es schräg – denn als Vertreterin der Homo sapiens wären für Ayla eine dunkle Haut und Haarfarbe stimmig gewesen. Immerhin stammt der homo sapiens vom afrikanischen Kontinent, während die europäischen Neandertaler eher helle Typen gewesen sind.

Unwissenheit? Künstlerische Freiheit? Oder setzte sich hier nicht doch die Präferenz der amerikanischen Autorin durch, die ihre Urahnin lieber am zeitgenössischen westlichen Schönheitsideal orientiert?
Hier wäre mehr Realismus tatsächlich ein Gewinn für einen weniger eurozentrierten Blick auf die Ursprünge der Menschheit gewesen.
Was für eine verschenkte Chance für etwas mehr Farbe!

2. Nordische Mythologie: „Achtung Trolle!“

(Rudolf Simek, Professor, Universität Bonn)

In altnordischen Sagas fungierten die Trollgestalten als Gegenbild zum Helden. Sie waren der ungezähmte Antitypus zu den zivilisierten Menschen: dreckig, dumm, versoffen und sexuell freizügig – auch gerade die weiblichen Trolle. Trolle waren aber keineswegs harmlos, sie waren tödlich und groß. Je nach Saga konnten sie riesig wie Berge und Naturgewalten oder mindestens riesige behaarte Kreaturen sein.

Tolkien orientiert seine Trolle im „Kleinen Hobbit“ und „Herr der Ringe“ an diesen Vorbildern, übernimmt jedoch die Versteinerung bei Sonnenlicht aus anderen Geschichten. Peter Jackson lässt die Trolle in der Verfilmung wieder überdimensional groß werden.

Einen Gegentrend waren Tove Janssons „Mumins“. Seit diesen Erfolgsbüchern und -Filmen über tierartige und menschenartige Wesen sind Trolle vor allem eins: klein und niedlich. So setzen sie ihren Zug durch die nordischen Kinderbücher fort.

Sagt es vielleicht etwas über unser ambivalentes Verhältnis zu Natur und Naturgewalten aus, dass Trolle einmal abstoßend und roh und ein anderes Mal zu Kinderbuchgestalten verharmlost werden?

3. Jüdische Mythologie und antisemitischer Mythos: Spock und Doctor Who als „Ewiger Jude“?

(Stefan Cernohuby /Benajmin Rosenbaum, Autor)

Im jüdischen Galuben existiert das Selbstbild des auserwählten Volkes, das umherzieht und erst Erlösung durch den Messias und seine Heimat findet, wenn es alle Gebote befolgt. Klugheit und Humor sind dabei seine Überlebensstrategien.

Im Antisemitismus wurde dagegen der Typus des „Ewigen Juden“ geprägt, der durch seine Leugnung Jesu außerhalb von Vergebung und Erlösung steht. Er ist verdammt, bis in alle Ewigkeit umherzuwandern.

Gemeinsam ist beiden Figuren die Heimatlosigkeit und Suche. Im Gegensatz zur klassischen Queste kehren sie also nicht nach erfolgreich bestandener Heldenreise heim. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden liegt jedoch in der Bewertung als gesegnet und auserwählt oder verflucht.

Wie weit bewusst diese Gestalten in die Konzeption von Spock (Star Trek) und Doctor Who einflossen, ist nicht nachweisbar. Beide sind Fremde, Reisende durch Zeit und Raum. Doch während Spock sich damals seinem blonden und entschlossenen Kapitän unterordnete und damit in der Rolle des treuen Helfers verharrt, wird Doctor Who ein denkender, gewaltverachtender Protagonist.

Damit finden sich laut Benjamin Rosenbaum in dieser populären und sehr erfolgreichen Figur (seit den 60ern) Anknüpfungspunkte für eine positive Identifikation eines jüdisch geprägten Publikums, das mit sich in der Exilerfahrung und den Werten wiederfinden kann.

Ein weiterer spannender Aspekt des Doctor Who ist seine Wandelbarkeit. Er regeneriert sich in unterschiedlichen Personen und verkörpert so immer neue zeitgemäße Anteile des Außenseiters.
Was sagt es dann aus, dass der nicht dazu gehörende, ewig suchende Doctor Who nach all den Jahrzehnten heute nun als Frau inkarniert ist?

Auf der Suche nach neuen Welten.

4. Datenauswertung in Schreckensregimes: „nsa“ – Hitler im Zeitalter der Digitalisierung

(Dr. Katharina Larisch, Unternehmensberaterin über Eschbachs „nsa“)

Die Erfassung und Vermarktung unserer Daten ist eines der großen aktuellen Themen in der Zeit von Big Data, Facebook und Cambridge Analytica.

Verbessert die Vermarktung meiner Personen-Daten zu Werbezwecken meine Suchfunktion? Unterstützt mich die Ortung bei der Orientierung oder werde ich ausspioniert? Wer sitzt hinter den elektronischen Augen der digitalen Geräte? Können Gesundheitsdaten, die abgefragt, gespeichert und verknüpft werden Leben retten?

Oder töten Daten?

„Was wäre, wenn das Deutsche Reich führend gewesen wäre in Sachen Computer und Elektrobrief, wenn es schon im Kaiserreich ein Weltnetz und ein Deutsches Forum gegeben hätte und jeder in Deutschland schon um 1930 ein tragbares Volkstelefon und eine Geldkarte gehabt hätte?“ heißt es im Klappentext von Eschbachs „nsa“-Roman. Der Autor kombiniert historische Ereignisse mit zeitgenössischer Datentechnologie.

Anne Frank wurde durch die Abgleichung von Daten aus Einwohnermeldeamt und Bauamt gefunden und ermordet. Die Ämter in Amsterdam waren in den 1940er Jahren tatsächlich besser vernetzt als anderswo in Europa. Das historische NS-Regime war schon so unbeschreiblich berechnend und tödlich. Wäre es im Besitz noch weiter entwickelter Datenauswertung überhaupt noch zu besiegen gewesen?

Eschbachs Fiction führt uns deutlich die Gefahren heutigen Daten-Umgangs vor Augen, indem er sie mit einer Schreckensepoche unserer Geschichte verbindet. Seine Dystopie liegt nicht in einer fernen Zukunft und einem fremden Land. Sie liegt in unserer eigenen Vergangenheit und Gegenwart.

Wir erschaffen Welten!

Fantasy und auch gerade Science Fiction bietet per se einen großen Freiraum für Gesellschaftsentwürfe. Wir Autor*innen müssen uns hier nicht an historische oder zeitgenössische Realitäten halten, auch wenn wir uns von ihnen inspirieren lassen. Geschichte wurde und wird immer interpretiert und phantastische Literatur erhebt nicht den (meist verlogenen) Anspruch einer Realitätsnacherzählung.
Wir können eine ideale Welt erschaffen, in der Gesellschaft und Individuen frei sind von bestimmten Normen und Hierarchien. Unsere Romane können von matriarchal strukturierten Urmenschen oder Naturgeistern handeln, die ungezähmt oder flauschig sind. Es ist auch möglich, den oder die Heimatlose zur intelligenten Heldin unserer Erzählung zu machen.

Utopien oder für uns ideale Aspekte erwecken Sehnsucht bei der Leser*in und vielleicht auch Hoffnung. Den Mut, eigene Ideen zu entwickeln und diese auch individuell umzusetzen.
Oder wir können genau diese Machtstrukturen überspitzen und dystopische Romane, düstere Visionen der Zukunft entwerfen, die die Leser*in schaudern lassen: Steuern wir auf solch eine Gesellschaft zu? Wollen wir so leben und unseren Kindern/Töchtern so eine Welt hinterlassen?

Eine Verschwendung unseres schöpferischen Potentials und dieser Chance wäre eine unreflektierte Adaption bestehender sozialer Hierarchien und Werte.
Denn, wenn in der Phantastik der Raum für gesellschaftliche Entwürfe und Gegenentwürfe nicht genutzt wird, wo denn dann?

Um die Bewohner*innen dieser Welten wird es im nächsten Teil dieses Beitrags gehen. „Wie viele Klischees braucht die Phantastik?“ Diversität und Weltenbau in der Phantastik Teil 2

** Autorin des Beitrags ist Deborah B. Stone.

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