Schicksalsstöcke

J.M.H. Reichert: Monster. #Halloween im #Nornennetz

Vorsichtig betrat Maezaye die Bibliothek und schirmte das Licht der Kerzen mit der Hand ab. Das Knarzen der schweren Tür durchdrang den hohen Raum, brachte ihn zum Zittern und Alarmschlagen; Jemand war unbefugt eingedrungen.

Ein Schaudern durchfuhr Maezaye, setzte sich in ihrem Bauch fest und kribbelte angenehm. Sie liebte dieses Gefühl und den Geruch von Staub und Pergament, der die Luft durchsetzte. Hier, im Reich ihrer Mutter, durfte sie sich nicht erwischen lassen. Doch sie brauchte das Labor im Herzen der Bibliothek, denn sie hatte eine Spur. Irgendetwas ging in diesem Haus vor. Ihre Mutter hatte sich verändert, vor einem Jahr, kurz nach Maezayes dreizehntem Geburtstag, als sie ungewollt den Strom der Magie im Keller angezapft und freigesetzt hatte. Ihre Mutter hatte das Leck geschlossen. Aber seitdem sah Maezaye keine Wärme mehr in ihren Zügen. Aus ihnen sprachen einzig Verachtung, Missgunst und Eiseskälte. Die zuvor so sanftmütige Magierin war selbstsüchtig geworden – und niemand schien die Veränderung zu bemerken. Also hatte sie Anhaltspunkte gesammelt, magische Analysen, die Camarena ihr verboten hatte. Denn so nannte Maezaye sie zuweilen gedanklich: Camarena, die Kalte.

Maezayes nackte Füße verursachten kaum einen Laut, als sie zum Arbeitstisch hinüberhuschte. Die ungeordneten Gläser und Fläschchen im Regal darüber reflektierten den flackernden Kerzenschein. In ihnen schimmerte es blau, violett und rot. Vorsichtig stellte Maezaye den Kandelaber auf die Tischplatte. Ihren Analysestein, ein flacher Pyrit, legte sie daneben. Magische Analysen waren nicht Maezayes, sondern Camarenas Fachgebiet. Für Kinderhände zu gefährlich, behauptete sie. Maezaye schnaubte bei dem Gedanken. Von wegen!

Die polierte Oberfläche des Edelsteins glänzte im Orangerot von Maezayes Magie, durchsetzt von goldgelbem Glimmen. Doch statt in unablässigem Züngeln die Fluktuation der Umgebungsmagie anzuzeigen, blieb das Leuchten gleichmäßig. Ein Hinweis auf ein stabiles arkanes Phänomen. Ob das der wahre Grund für das Verbot war?

Maezaye betrachtete das Regal neben dem Tisch. Bücher und Schriftrollen lagen quer übereinander, reihten sich an Schatullen und Schreibutensilien, Messer und Pinzetten. Ein Buch lag im untersten Fach, genau dort, wo Maezaye es nach ihrem letzten Besuch versteckt hatte. Bei all der Unordnung entging ihrer Mutter, wenn der schmale Einführungsband zur Analytik nicht an seinem Platz in den Bücherregalen stand, sondern direkt neben ihrem Arbeitstisch.

Schnell blätterte sie die Seiten durch, bis sie fand, was sie benötigte. Mit dem Finger auf dem Papier las sie sorgfältig Zeile um Zeile und prüfte sie den Zauber, die sie um den Pyrit gewoben hatte. Sie sah keinen Fehler. Das Konstrukt der Magie entsprach den Anweisungen. Allen arkanen Ausrichtungen war eines gemein: Egal ob Analysen oder Schutzzauber, mit denen sich Maezaye eigentlich beschäftigen sollte, sie folgten bestimmten Mustern. Die Anzeige des Steins war korrekt. Genauso korrekt wie die Zahlen in ihrem Notizbuch. Die Umgebungsmagie floss in dieser Villa gleichmäßig und deutete auf eine starke Quelle unabhängig der Ströme hin.

„Also doch“, murmelte Maezaye und sah sich in der Bibliothek um. Sie brauchte einen Fokus, ein bündelndes Element, um den Ursprung zu erfassen. Das Kribbeln in ihrem Magen verstärkte sich. Sie würde dem Convent beweisen, dass etwas im Hause DiVentin vor sich ging und dass sie in der Lage war, die Analysemagie zu meistern.

Kurz entschlossen suchte sie nach dem passenden Buch und fand sogar eines mit Camarenas Randbemerkungen auf den Seiten. Ein Fokus zu generieren war leicht. Knifflig würde die Implementierung in ihr Artefakt. Aus einigen Gläsern nahm sie sich die im Buch aufgezählten Reagenzien sowie eine Perle aus Topas, die kaum größer war als ein Hirsekorn. Konzentriert las sie die Angaben und modifizierte ihren improvisierten Analysestein. Sie rechnete und verschob die arkanen Muster des Zaubers, den sie mit Pyrit verbunden hatte, erschuf durch die Mixtur aus erhitzter Phansäure, Skieverextrakt und Kohlestaub als Katalysator vorsichtig eine Lücke. Die Fäden des Magiekonstruktes durften nicht zerreißen. Doch kaum platzierte sie den Topas mit einer Pinzette in der Mitte, begann das Gefüge zu vibrieren. Die Lücke verzog sich, Maezayes Magie leuchtete grell auf – und hinter ihr fiel krachend die Tür ins Schloss.

Maezaye fuhr herum. Ihre Mutter kam wütend auf sie zu.

„Habe ich dir nicht verboten, hierher zu kommen?!“

Der harsche Ton kleidete Maezayes Innerstes mit porösem Rost, unter dem jeglicher Gedanke zerfiel. Mit tauben Fingern umklammerte sie die Tischkante. „Aber ich wollte doch nur …“

Weiter kam sie nicht.

Camarena trat neben sie, holte aus und fegte energisch Mörser, Gläser und Werkzeug vom Tisch. Es klirrte, als etwas auf dem Boden zerschellte. „Ich habe es dir verboten!“

Die Wut ihrer Mutter verdrehte das Kribbeln in Maezayes Bauch zu einem erbitterten Ziehen, das sie drängte, den Raum zu verlassen und die Konfrontation zu meiden. War sie aufgeflogen? Wusste Camarena, wonach sie suchte? „Aber hier ist irgendetwas im Haus.“ Maezaye griff hinter sich, nahm den Pyrit und hielt ihn ihr entgegen. „Und es beeinflusst dich!“

Plötzlich lächelte ihre Mutter und machte ihrem stillen Beinamen alle Ehre. „Du hast Halluzinationen, Schätzchen. Dein Vater macht sich deswegen bereits große Sorgen.“

Maezaye sah die fremd gewordene Frau an. Der Rost bröckelte und legte den Schmerz bloß, den diese Worte verursachten. Sie sorgte sich nicht? Heftig schüttelte Maezaye den Kopf. „Ich habe keine Halluzinationen. Schau!“ Erneut hob sie den Analysestein. Doch ihre Mutter riss ihn ihr aus der Hand.

Die im Pyrit gespeicherte Magie löste sich und durchfuhr Maezaye wie ein Donnerschlag. Orangerot sprang nach allen Seiten davon; ein Regen aus magischen Funken, die flüchtig aufglühten und sich plötzlich zu einem Punkt zusammenzogen. Die Energie sammelte sich, wanderte glühend Camarenas Arm hinauf. Maezaye konnte die Genugtuung in ihrem Gesicht erkennen, ehe ihre Züge vibrierten und zerbrachen. Dahinter erkannte Maezaye etwas Grauenvolles.

Eine entstellte Fratze lächelte freudlos. Kalte, dunkle Augen stachen Maezaye ins Herz.

„Deswegen hatte ich es dir verboten“, sagte das Wesen mit der Stimme ihrer Mutter und doch einer anderen. „Wir brauchen keine Einmischung.“ Der Pyrit fiel zu Boden und Klauen fuhren aus ihren Händen. Maezaye verstand. Camarena, die Kalte, war die ungewöhnliche magische Präsenz. Ein Monster, das nicht in ihre Welt gehörte. Die Erkenntnis versteinerte jede ihrer Poren. Maezaye sah die Klauenhände ausholen. Krallen bohrten sich in ihren Hals, in ihr Gesicht. Der plötzliche Schmerz ließ sie zurückzucken. Sie stolperte, ihr Kopf schlug hart auf die Dielen. Die Monsterfratze erschien über ihr.

Mit tauben Fingern tastete Maezaye nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Scharf schnitt es ihr in die Hand. Sie wagte kaum zu atmen. Als die Pranken erneut auf sie zuschnellten, stach Maezaye zu. Das Wesen heulte auf, Blut spitzte. Nein, das war keine Halluzination. Sie bildete sich die Analysen nicht nur ein. Oder? Mit dem Zweifel drang ein Schrei auf sie ein und sie hielt sich die Ohren zu. Erst, als sie innehielt, bemerkte sie, dass sie selbst geschrien hatte.

Alles war so stumpf, alle Gedanken, alle Gefühle. Sie tanzten um sie herum, im Strahlen der Wut. Ihr ganzer Körper zitterte, dennoch erhob sich Maezaye und kam taumelnd auf die Beine.

Das Scheusal lag auf dem Boden, es bewegte sich noch. Maezaye sah sich um und griff nach einem der Messer. Die Wut gleißte so hell, ließ den Rost schmelzen und entflammte die schmerzliche Erkenntnis. „Wo ist meine Mutter?!“, verlangte sie zu erfahren. Aber als Antwort erhielt sie nur ein Gurgeln – oder lachte es?

„Wo ist meine Mutter?!“, schrie sie erneut und warf sich auf das Monster. Immer und immer wieder stach sie auf den entstellten Körper ein. Die Fratze verschwand, ihre Mutter lag unter ihr, ein Auge zerfetzt vom Glas, das andere weit aufgerissen. Das scheußliche Wesen war verschwunden.

Maezaye ließ das Messer fallen und schob sich hastig rückwärts. Ihr Rücken prallte gegen etwas Hartes, es schepperte. Sie zog die Beine an und vergrub den Kopf in den Armen. Wie durch einen Kokon nahm sie wahr, dass jemand hereinstürmte. Geschrei erfüllte die Bibliothek, jemand zog Maezaye grob auf die Füße und schüttelte sie. Sie sah in das Gesicht ihres Vaters. Seine Worte wurden von dem Rauschen in ihren Ohren übertönt.

„Sie war ein Monster“, blieb alles, was Maezaye hervorbrachte.


Bildnachweis @Elenor Avelle

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diandralinnemann
6 Jahre zuvor

Da fragt man sich, wo das scheußliche Wesen hin ist …