Schicksalsstöcke

Elea: Der Jüngling. #Halloween im #Nornennetz

Tick-tack. Tick-tack.

Das Pendel der Uhr war das einzige Geräusch in der Dunkelheit. Dünnes Mondlicht kroch zwischen den schweren Samtvorhängen hindurch, zeichnete die Konturen des Kleiderschranks und des Schaukelpferds nach und spiegelte sich auf der Oberfläche der Emaille-Waschschüssel.

Viktoria starrte schlaflos an die Decke ihres Himmelbetts, die sie wie ein sternloses Firmament überspannte. Aufmerksam horchte sie in die Finsternis. Nichts. Keine Schritte auf den Dielen. Kein Licht unter der Tür. Alles schlief.

Es ist soweit.

Angespannt bettete Viktoria ihre Puppe auf die Laken und deckte sie sorgfältig zu. Sie drückte ihr einen Kuss auf das Porzellangesicht und setzte behutsam einen Fuß auf den Holzboden. Nur ein einziger Versuch.

Sie hielt den Atem an, presste die Lippen aufeinander und stieß sich vom Bett ab. Einen Moment stand sie schwankend auf den Dielen wie ein Seemann auf wackligen Planken, doch sie hielt das Gleichgewicht.

Vorsichtig tat sie einen Schritt nach dem anderen. Sie konnte es kaum fassen: Ihre Beine trugen sie! Ein breites Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr Freund hatte Wort gehalten. Sie konnte nicht widerstehen und verpasste dem Rollstuhl neben ihrem Bett einen kleinen, triumphalen Schubs, sodass er knarrend zur Wand rollte. Heute Nacht würde sie ihn nicht brauchen, das hatte der Jüngling ihr versprochen.

Mit fliegenden Schritten eilte sie zum Fenster und zog die schweren Vorhänge beiseite. Der Garten lag vor ihr wie verwunschen. Eiben ragten als schwarze Finger aus dem Gras, durch das wispernd der Wind strich, und fahles Sternenlicht fing sich im Seerosenteich in der Ferne.

Viktoria drückte den Haken aus dem Verschluss und zog die hohen, doppelflügeligen Fenster auf. Der Herbstwind roch nach Laub und Moos und wehte feuchte Blätter in ihr Gesicht. Papa würde zornig sein, doch sie hatte keine Wahl. Sie musste den Jüngling sehen. Er wartete auf sie.

Vorsichtig schwang Viktoria ihr rechtes Bein über das Fenstersims, dann zog sie das linke nach. Wie ein Vogel saß sie auf ihrem Ast und schaute in die Tiefe. Ihre Zunge klebte trocken am Gaumen und ihr Herz pochte wild gegen ihren Brustkorb. So hoch. So viele Meter.

»Vertraust du mir nicht?«, hatte der Jüngling gefragt und sie mit seinen traurigen Bernsteinaugen angesehen. »Du musst mir vertrauen. Du bist meine Freundin.«

Viktoria atmete tief durch, während beruhigende Wärme ihren Körper durchflutete. Ja, sie vertraute ihm. Und sie sprang.

Für einen Moment, der in der Ewigkeit verwurzelt schien, schwebte ihr Körper durch die nasskalte Nacht und ihr entfuhr ein leiser Schrei. Doch als sie schon erwartete, die Härte des unvermeidlichen Aufpralls zu spüren, umfing sie eine sanfte Umarmung.

Helle Locken umrahmten das weich geschnittene Gesicht des Jünglings und ein lilienweißes Gewand umschmeichelte seinen Körper. Unergründliche Augen leuchteten Viktoria entgegen.

»Das hast du gut gemacht«, flüsterte er. Sein Atem glitt über Viktorias Haut und liebkoste ihre Wangen. »Du bist ein tapferes Mädchen.«

Viktoria lächelte und hob das Kinn, um größer zu erscheinen. »Ich habe es dir versprochen.«

»Das hast du«, gab er zu und ergriff ihre Hand. »Komm, ich will dir etwas zeigen.«

Seite an Seite huschten die beiden durch den Garten und Viktorias nackte Füße flogen über das feuchte Gras. Wie sehr hatte sie das vermisst! Obwohl sie die Vorstellung grenzenloser Freiheit in Begeisterung versetzte, war sie froh, dass ihr die Hand ihres Freundes Sicherheit und somit Zuversicht schenkte. Bedrohliche Schatten umfingen sie und tanzten in der Dunkelheit. Kahle Äste streckten ihre Fänge nach Viktoria aus, griffen nach ihrem Haar, verfingen sich in ihrem Nachthemd. Feuchte Nachtluft legte sich auf ihre Haut und Schlamm klebte an ihren Füßen. Einen Moment sehnte sie sich in ihr warmes Bett zurück, doch sie wusste, dass sie ihren Freund nicht enttäuschen durfte.

Sie erreichten den südlichen Teil des Gartens, in dem im Sommer überwachsene Lauben und duftende Blumenbeete zum Verweilen einluden. Viktorias Blick glitt die Weißdornhecke hinauf, die als unüberwindliche Mauer in die Höhe ragte und ihren goldenen Käfig begrenzte.

Fragend sah sie ihren Begleiter an: »Und nun?«

Er lachte und seine Zähne blitzten im Dunkeln. »Ich zeige es dir. Vertrau mir.«

Sie schlenderten weiter, die Hecke entlang, vorbei an einer Weide, deren Zweige Viktorias Haarschopf kitzelten.

»Da sind wir.«

Überrascht hielt sie den Atem an, ihre Finger umfingen die Hand des Jünglings noch fester.

Ein Huschen und Knacken zog sich durch den Weißdorn wie ein Windstoß. Knarzend wichen die Äste auseinander und gaben einen Durchgang frei, der in einen langen, von Hecken gesäumten Gang mündete. Andächtig betrachtete Viktoria das Tor, dessen Zweige mit einem Mal in sattem Grün sprossen.

Die Hand des Jünglings schloss sich besitzergreifend um ihre. »Komm«, munterte er sie auf. »Das ist unser Geheimnis. Wollen wir es erkunden?«

Viktoria nickte begeistert und folgte ihrem Freund durch das Tor. Wie eine Königin schritt sie den heckengesäumten Weg entlang, gehüllt in diffuses, weißes Licht, das sie wie Mondschein umfing. Andächtig staunend ließ sie ihren Blick schweifen und ein glückliches Lächeln zauberte sich auf ihre Lippen.

Neugierige Gesichter beäugten sie aus der Hecke heraus, geformt aus Blättern und Ranken mit runzligen Wangen und dunklen Knopfaugen. Eine knorrige Hand steckte ihr eine Blüte ins Haar. Irgendwo gurgelte ein Springbrunnen und eine leise, verträumte Melodie drang aus der Ferne an Viktorias Ohr. Jauchzend streckte sie die Hände in die Luft und drehte sich zu den Klängen, bis ihr schwindlig wurde.

Ihr Begleiter schwieg und beobachtete sie lächelnd. Eine Locke fiel ihm ins makellose Gesicht.

Viktoria ließ sich treiben, tanzend, lachend. Befreit von allen Zwängen. Sie folgte ihrem Freund tiefer hinein in den Irrgarten, dessen Pfade und Windungen immer neue Überraschungen bereithielten. Am Springbrunnen hockte eine Nixe aus fließendem Wasser, die gurgelnd ihr Haar in den Nacken warf. Ein glitzernder Schleier folgte ihrer Bewegung und zerstob in unzählige Tropfen.

Tausende, nein, Abertausende Schmetterlinge umschwirrten die weißen Blüten der Hecken und hinterließen schimmernde Streifen in der Luft, die nach Lilien dufteten. Viktoria hielt den Atem an, als sich einer von ihnen auf ihrer Hand niederließ, die violett schillernden Flügel im eigenen Takt wippend. Jauchzend warf sie ihn zurück in die Luft, wo er rasch im Tintenblau des Nachthimmels entschwand.

Sie waren schon ganz nah, Viktoria konnte es spüren. Ganz nah an dem, was im Zentrum des Labyrinths auf sie wartete.

Beiläufig warf Viktoria einen Blick zurück – und hielt inne. Kalter Wind strich ihr durchs Haar und jagte eine Gänsehaut über ihren Rücken. Ranken krochen spinnengleich über den Boden, schlangen sich ineinander und verschlossen knarzend den Durchgang, bis undurchdringliches Dickicht den Rückweg versperrte. Dunkelheit schlich heran und überzog die weißen Blüten mit einem schwarzen Schimmer, ließ sie verkümmern, verblühen, sterben. Beklemmende Kälte drang in Viktorias Brustkorb. Das Atmen fiel ihr schwer.

Wimmernd sah sie sich nach ihrem Begleiter um, der sie fragend musterte. »Was ist los?«

»Die Hecken«, murmelte Viktoria. »Ich … ich kann nicht mehr zurück.«

Der Jüngling verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln, das Viktoria schaudern ließ. Da war kein Funkeln mehr in seinen Augen, nur gähnende Finsternis. Keine Wärme, nur Frost. »Ich weiß«, flüsterte er. »Niemand kann zurück.«

Viktoria rang nach Atem, als die Melodien mit einem Mal verstummten. Panisch presste sie die Hände auf den Mund und starrte fassungslos auf die schwarzen Wände, die sich plötzlich um sie her auftürmten. Dornen sprossen aus den Ästen und Zweigen. Die fröhlichen Gesichter verzerrten sich zu Fratzen. Die Klänge verkamen zu kakophonem Jaulen und schnitten in ihr Trommelfell. Angst kroch Viktoria in die Glieder. Sie fuhr herum. Der Jüngling war fort.

Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, doch er verhallte in der Schwärze der Dornen. Sie rannte. Rannte blind in das Gewirr aus Hecken, die sich unüberwindlich in die Höhe schraubten. Rechts. Links. Geradeaus. Sackgasse. Viktoria fuhr herum, schweißnass und atemlos vor Angst. Die Ranken krochen näher, umschlangen Viktorias Bein. Blut spritzte. Brennen durchzuckte Viktorias Körper, als sie ihr Bein endlich losriss. Zurück zur Kreuzung. Dann links. Wieder links. Sie musste dem Zentrum schon nahe sein.

Viktoria schluckte und spürte, wie sich ihr Brustkorb zusammenzog. Etwas war dort. Etwas wartete auf sie.

Sie konnte nicht atmen. Die Luft schmeckte nach Blei und Schwefel. Ihre Lungen brannten, ihre Kehle schien ausgedörrt. Wimmernd sank sie auf die Knie und kauerte sich zusammen. Die Welt stand still, selbst das Heulen des Windes und das Knarzen der Äste verstummte. Wie ein schwarzes, kaltes Tuch legte sich Schweigen über den Ort und Viktoria blinzelte. Tränen liefen über ihre Wangen und verfingen sich in ihrem Nachthemd.

Mit zitternden Knien richtete sie sich auf. Das Zentrum war ganz nah – und obwohl grässliche Angst durch Viktorias Adern rann, wusste sie, dass dort ihr Ziel liegen musste. Der Ort, den sie so oft schon in ihren Träumen gesehen hatte. Der ihr Angst machte, doch zugleich Erlösung versprach.

Viktoria füllte ihre Lungen mit Luft und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Nein, es gab keinen Grund zu weinen. Sie musste sich nicht fürchten.

Die Ranken ringsum verharrten, die Dornen wichen zurück. Fest entschlossen schritt Viktoria den Pfad entlang. Ihr Gefühl trieb sie voran, die absurde Gewissheit, jede Abzweigung genau zu kennen. Rechts. Links. Die grotesken Fratzen hatten ihren Schrecken verloren.

Sie durchquerte den letzten Torbogen und spürte, wie ein Windhauch über ihre Haut streichelte. Wehmut erfasste sie, als die Ranken den Weg versperrten. Sie hätte sich gern verabschiedet.

Ein Funke löste sich aus dem Schatten. Der blonde Jüngling lächelte und reichte Viktoria seine Hand. »Komm«, flüsterte er und sein warmer Atem umschmeichelte ihre Wange. »Lass uns gehen.«

*

Ein Schrei riss die Bewohner des Hauses aus dem Schlaf. Ein Schrei und das Bersten von Porzellan. Während die Mägde die ohnmächtige Amme in ihre Kammer schleppten, starrte der Hausherr fassungslos auf den zerschmetterten kleinen Körper unter dem Fenster. Er konnte es nicht begreifen. Sie war so schwach gewesen, selbst zu schwach, um zu essen. Wie konnte sie …?

Mit tränenüberströmten Wangen sank er im Gras nieder. Sie sah so friedlich aus, sein kleines Mädchen. Die Augen geschlossen, ein dünnes Lächeln auf ihren blassen Lippen. Der süßliche Duft von Lilien zog ihm in die Nase, als er ihre kalte Wange berührte.

Schlaf gut, mein Engel.


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diandralinnemann
7 Jahre zuvor

Beim Lesen musste ich an „Pans Laryrinth“ denken. Also … gut gemacht. ^^

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[…] »Der Jüngling« erscheint euch auf den ersten Blick wie ein helles Licht in finsterer Nacht, und ihr lauft um 13.48 Uhr erschöpft auf ihn zu. Elea Brandt schaut euch an und wirft euch einen undeutbaren Blick zu. Ihr Mund öffnet sich, sie sagt etwas, aber ihr könnt sie nicht verstehen. […]