Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit"
Schicksalsstöcke

Rauhnächte: 7. Rauhnacht Orange

Eine gefrorene Seifenblase im Regenbogennebel. Oben rechts die Schrift "Rauhnächte bunte Geschichten zwischen Eis und Dunkelheit", rechts unten eine 7
Grafik: Jana Jeworreck

Niamhs Spiegelbild verzog den Mund, als sie ihre Haare inspizierte. Was sie zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe hielt, war nicht mehr nur ein einzelnes graues Haar, sondern inzwischen eine ganze Strähne davon. Ein Rudel Haare, das ihre Pigmentierung verloren hatten und der Fae aufs Neue vor Augen führten, dass sie sich nicht mehr in Tír na nÓg befanden. Fae, die sich in der Menschenwelt aufhielten, alterten zwar langsamer als die Menschen, aber sie alterten. Und genau das war es, was Niamh gerade Unmut bescherte. 

„Niamh, bist du dann mal fertig im Bad? Ich muss mal und Brady hat mal wieder die Toilette im Laden verstopft,“ drang die Stimme von Niamhs Lebenspartnerin Aine durch die Tür. 

Niamh seufzte. „Bin gleich fertig!“

Aine empfing sie mit einer hochgezogenen Augenbraue und vor der Brust verschränkten Armen. „Was hast du da drin so lange gemacht?“ 

„Gar nichts,“ erwiderte Niamh und versuchte sich an ihrer Partnerin in dem engen Gang vorbei zu schieben. Aber Aine griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie zurück. Sie legte eine Hand an Niamhs Wange und drehte ihr Gesicht zu sich, sodass Niamh ihr in die Augen sehen musste. 

„Hast du wieder deine grauen Haare gezählt?“ fragte Aine direkt und warf einen prüfenden Blick auf Niamhs ergrauende kupferrote Mähne. 

Niamh schüttelte Aines Hand an ihrer Wange ab und verneinte. 

„Niamh, leannán… Wie oft muss ich dir denn noch sagen, dass du dir nicht so viele Sorgen um deine Haare machen sollst?“ 

Niamh wich Aines Blick aus. Zu viele Gefühle lagen darin. Gefühle, denen Niamh sich gerade nicht stellen wollte. „Ich tu’s aber. Ich weiß, warum wir nicht in Tír na nÓg bleiben konnten, aber ich mag es nicht, dass die Zeit jetzt doch zu uns aufschließt. Ich…“ Ich will dich nicht verlieren. Will dir nicht beim Sterben zusehen müssen oder du mir. Sie hätte diese Gedanken zu gerne ausgesprochen, aber sie und Aine hatten diese Diskussion schon zu oft geführt. Und sie brachte nichts außer Schmollen und Schweigen zwischen den beiden Frauen. 

„Ich weiß, leannán,“ meinte Aine. Dann blitzte plötzlich ein Licht in ihren Augen auf, als hätte sie etwas vergessen und es wäre ihr gerade eingefallen. Sie ließ Niamh los und hastete den Gang hinunter zur Wohnungstür. „Beinahe hätte ich es vergessen!“ 

Niamh runzelte die Stirn als sie nur hörte wie Aine am anderen Ende des Ganges in einer Tasche wühlte. Aine stieß ein triumphierendes „Ha!“ aus und kam dann, mit den Händen hinter ihrem Rücken versteckt, wieder auf Niamh zu. 

„Was hast du da?“ fragte Niamh und legte den Kopf schief, wie sie es so oft tat, wenn sie versuchte, eine Situation einzuschätzen. 

Auf Aines Gesicht machte sich ein großes Grinsen breit. „Mach die Augen zu!“ befahl sie und wartete, dass Niamh gehorchte. 

„Du weißt, ich hasse es, wenn du das zu mir sagst. Das endet jedes Mal in einem Desaster,“ grummelte Niamh, schloss dann aber doch die Augen. 

Der Boden knarzte, als Aine einen Schritt näher trat. Niamh konnte ihr Shampoo und ihr Parfüm riechen und ihre Gedanken wandten sich prompt anderen Wegen zu. Aber Aine ließ ihre keine Zeit, den Ideen, die sich in ihrem Kopf formten, nachzujagen. Sie nahm Niamhs Hände und drückte eine glatte, mittelschwere Schachtel aus Karton hinein. 

„Okay,“ sagte Aine. Niamh konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören und es erinnerte sie an die warmen Sommerabende in Tír na nÓg. 

Zögerlich öffnete Niamh die Augen und sah sich die Schachtel in ihren Händen an. Haarfärbe-Kit – orange/helles Kupfer stand auf der Verpackung, die eine strahlende Frau mit orangenem Haar zeigte. Niamh sah zu Aine auf. „Was soll das?“ fragte sie und war kurz davor, Aine bitterböse anzufunkeln. Das war nicht lustig. 

„Sieh es als Geschenk, für Weihnachten,“ erwiderte Aine. Ihr Lächeln schwankte wie eine flackernde Glühbirne, die kurz davor war, auszugehen. 

„Weihnachten ist eine Woche her…“ meinte Niamh. 

Aine legte ihre Hände auf Niamhs und auf die Packung Haarfarbe. „Dann sieh es als nachträgliches Weihnachtsgeschenk. Ich weiß, es ist nicht ganz dein Naturton. Aber die Verkäuferin im Geschäft meinte, die Marke überdeckt sehr zuverlässig graue Haare.“ 

„Aine,“ stöhnte Niamh und wollte sich losreißen, als Aine ihren Griff verstärkte. 

„Leannán, du musst die Vergangenheit endlich loslassen. Die Zukunft liegt vor uns. Und ich will mit dir alt werden und dich glücklich sehen. Wenn das heißt, dass ich dir alle paar Monate Haarfarbe kaufen muss, dann werde ich das tun. Du hast dich lange genug um die jungen Fae in Dublin gekümmert. Sie sind erwachsen. Und es wird Zeit, dass du dich um dich selbst kümmerst.“ Aines Blick bedeutete Niamh, dass sie keinen Widerspruch duldete. 

Niamh sah auf die Verpackung herab und dann wieder zu Aine. Sie seufzte. „Na gut. Ich werds versuchen. Aber orange ist echt nicht meine Haarfarbe. Ich habe kupferfarbenes Haar. Das nächste Mal lässt du mich die Farbe auswählen. Oder besser noch, wir gehen zum Friseur.“ 

Aine strahlte und drückte Niamh einen Kuss auf die Lippen. „Deal. Und jetzt geh, ich muss aufs Klo!“

Ein Beitrag von Sophie Grossalber

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