Beiger Hintergrund, Grafik mit Text und Bild und Schnörkeln. Der Text: Dezember 2021 und der Anfang der Geschichte Ruinenzauber. Das Bild zeigt schneebedeckte Ruinen
Schicksalsstöcke

Kalender 2021: Dezember

Das Kalenderblatt

Da dies ein Kalenderblatt ist, könnt ihr es hier downloaden und ausdrucken.

Leider passt nicht die gesamte Geschichte auf die grafische Darstellung, deswegen gibt es diesen Beitrag:

Ruinenzauber

Erneut führte ihr winterlicher Spaziergang sie zur alten Burgruine an der Küste. Egal wie oft sie auf ihren Ausflügen herkamen, der Anblick der steinernen Überreste aus längst vergangener Zeit beeindruckte Sofia immer wieder aufs Neue. Es war nicht mehr viel übrig vom herrschaftlichen Anwesen, nur ein paar Mauern, die hier und da aus der Erde ragten und den Elementen trotzten, dennoch war dessen einstige Erhabenheit noch immer zu erahnen. Hand in Hand streiften sie durch eine offene Wand in der Seite hinein, folgten den Trampelpfaden zwischen den einzelnen Räumen. Um sie herum war alles bedeckt von einer frisch gefallenen Schicht Schnee, die unter ihren Füßen knirschte.
Kaum betraten sie die Eingangshalle, mischten sich neue Geräusche hinzu. Ein Knistern und Klirren, das sie innehalten ließ. Sofia sah zu ihrer Frau, die genauso so verwirrt wirkte, wie sie sich fühlte. Wortlos tauschten sie sich darüber aus, ob sie umkehren sollten. Mit einer hochgezogenen Augenbraue konnte Sofia sie schließlich überzeugen, doch der Neugier nachzugeben.
Mit jedem weiteren Schritt wurde der Ton klarer, nun deutlich erkennbar als Glöckchen. Auch wurde es trotz fehlender Wände und Decken wärmer.
„Da!”, entfuhr es Sofia. Sie zeigte auf einen Kamin, in dem ein stattliches Feuer brannte.
Verdutzt drehte ihre Frau sich zur Stelle, denn diesen Kamin sahen sie zum ersten Mal. Die Wand hinter dem Wärmeherd schien neuer und weniger verfallen als der Rest der Burg. Es sah aus, als wäre die Feuerstelle im alten Stil wieder neu aufgebaut worden.
Je länger Sofia schaute, desto mehr Details konnte sie erkennen: Gravuren im Sims, eine Eisenzange an den Rost gelehnt. Als Josie an ihrem Ärmel zupfte, war es nun an ihr, sie fragend anzusehen.
Mit aufgerissenen Augen und ausgestrecktem Arm deutete Josie nach oben und Sofia folgte der Geste. Erschrocken zog sie die Luft ein. Dort, wo eben noch ein weites Loch geklafft hatte, war nun eine mit wundervollen Fresken und Stuck geschmückte Decke. Dazwischen hingen riesige Kronleuchter, die den Raum in warmes Licht tauchten. Sofia ließ ihren Blick schweifen und traute ihren Augen nicht. In einer Ecke des Raumes thronte eine prunkvoll geschmückte Tanne, deren Spitze fast an die Decke reichte. Die Äste behangen mit hübsch eingepackten Paketen, Lebkuchen und andere Spielereien. Daneben erstreckte sich ein reichlich gedeckter Tisch bis fast vor ihre Füße. Sofia atmete tief ein, konnte die Speisen beinahe riechen. Sie erkannte eine große Gans, Kartoffeln und Rotkohl, bis helles Lachen sie ablenkte.
Aus einer Nebentür stürmten zwei Kinder herein und blieben ehrfürchtig vor dem Baum stehen. Im Gegensatz zum Rest des Raumes waren die beiden verschwommen. Ihre Kleidung wirkte altmodisch, eine Epoche konnte Sofia ihr jedoch nicht zuordnen. All das wirkte wie das Echo einer längst abgesetzten Vorführung – und sie waren das letzte Publikum. Sofia hielt den Atem an, klammerte sich an Josies Hand. Keine von ihnen rührte sich, vermutlich hatte auch Josie Angst, dass die Szene vor ihnen dadurch verflog.
Doch es es geschah trotzdem.
So schnell sich die Ruine verändert hatte, so schnell verwandelte sie sich wieder zurück.
Die Farben verblassten, die Mauern zerbröselten vor ihren Augen. Übrig blieben nur grelle Sonnenstrahlen, die die schneebedeckte Ruine erwärmten.
Sofia blinzelte gegen das Licht.
“Du hast das gerade auch gesehen oder?”, flüsterte sie in die entstandene Stille.
Neben ihr nickte Josie nur ehrfürchtig und drückte ermutigend ihre Hand.
Das Schauspiel war vorüber, aber Sofia war sich sicher, dass es sie beide noch eine ganze Weile begleiten würde.

Eine Geschichte von Anne Zandt.

Fotografie: Katrin Brockmann-Propp

Grafik: Jana Jeworreck

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