Schwarz Goldener Bücherstapel mit vier Büchern. Oberstes Buch steht aufrecht einen Spalt aufgeklappt Schriftzug Das Ende des Western? – Wo fängt kulturelle Aneignung an, wo hört Annäherung auf?
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Das Ende des Western? – Wo fängt kulturelle Aneignung an, wo hört Annäherung auf?

Eine Musikerin wird wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen, eine Winnetou-Adaption für Kinder wird zurückgezogen. Begründung: Es handle sich um kulturelle Aneignung.

Derartige Beispiele machen immer häufiger Schlagzeilen. Bei wenigen Themen gehen die Meinungen so stark auseinander. In diesem Artikel will ich knapp erklären, warum das so ist, und warum es wahrscheinlich gar keine eindeutige Antwort gibt.

Was ist kulturelle Aneignung überhaupt?

Gemeint ist die Übernahme fremden Kulturguts in die eigene Kultur. So zum Beispiel die Dreadlocks der jamaikanischen Rastafaris oder das romantisierte Bild der amerikanischen Natives in der europäischen Literatur und im Film.

Na gut, und was ist an der kulturellen Übernahme jetzt schlimm? Winnetou hat doch zu einem positiven Bild der Native Americans in Europa geführt.

Klar. Aber es hat auch Stigmatisierung zur Folge gehabt. Aus guten Gründen versuchen wir heute, die Klischees abzubauen, die sich über Jahre entwickelt und gefestigt haben:

Jungs sind cool und spielen Fußball. Mädchen lieben Rosa, schminken sich und tragen Kleider.

Stellen wir uns vor, es gäbe eine Kultur, in der es eine Begeisterung für dieses Mädchenbild gäbe. In einer solchen Kultur würde sich ein wildes, fußballbegeistertes Mädchen trotz der positiven Haltung gegenüber Mädchen nicht wohlfühlen.

Das Bild des „edlen Wilden“ ist jedoch nicht nur verzerrend, sondern auch verharmlosend. In unseren Western zeigen wir Europäer das verklärte Bild einer Kultur, die unsere Vorfahren versucht haben, auszurotten. Ist das nicht pietätlos?

Zuletzt können Accessoires, die wir in unseren Kostümläden anbieten, für andere Kulturen religiöse Bedeutung haben. Selbst wenn wir vom Glauben grundsätzlich nichts halten, ist es höflich, andere Sitten zu respektieren.

Die Debatte über Faschingskostüme, die fremde Kulturen darstellen, ist übrigens gar nicht neu. Unter Slogans wie “Ich bin kein Kostüm” demonstrieren indigene Völker schon lange gegen die Stigmatisierung ihrer traditionellen Trachten. Im Rahmen der Diskussion um die Karl May-Adaption “Der Junge Häuptling Winnetou” hat das Thema bloß an Virulenz gewonnen. Das ist durchaus gut, denn es führt dazu, dass wir unseren Umgang mit fremden Kulturen hinterfragen. Allerdings gibt es noch eine andere Seite, die wir nicht vernachlässigen dürfen:

Kulturelle Annäherung braucht kulturelle Übernahme:

Kultur lebt vom Austausch. Sie lebt von Übernahmen, vom Einfluss aufeinander, von Verschmelzung. Die gesamte Weltgeschichte wäre nicht denkbar ohne Austausch und Übernahme von Elementen zunächst fremder Kulturen. Die in Europa gängigen Zahlen stammen von den Arabern. In Italien gäbe es keine Nudeln ohne den Kontakt mit China. Für viele moderne Subkulturen gilt dasselbe. Die Rastafaris zum Beispiel hätte es ohne das Christentum nicht gegeben. Zahlreiche Kunstrichtungen wären nicht entstanden. Jazz oder Blues sind zwar aus der marginalisierten Gruppe der Afroamerikaner hervorgegangen, allerdings nur durch Übernahmen aus der euroamerikanischen Musik. Ausgebreitet hätten sich die Musikstile nicht ohne ihre Übernahme von Europäern. Und sicher: So etwas führt auch zu einer positiven Sichtweise auf Kulturen, denen ehemals reserviert gegenübergestanden wurde. Gerade die Karl May Bücher haben dabei viel geleistet. In Europa haben sie das Bild eines gefährlichen und rohen Wilden durch das zwar romantisierte, aber äußerst positive “Indianer”-Bild abgelöst. Dies hat ein großes Interesse an den amerikanischen Ureinwohnern geweckt, das nicht selten auch zur ernsthaften Beschäftigung mit deren Geschichte und Lebensweise geführt hat. Karl Mays “Winnetou” ist ein Produkt seiner Zeit und sollte – meiner Meinung nach – als solches verstanden werden. Es sagt mehr über unsere Kultur aus als über die Indigenen. Ein Winnetou-Verbot* würde einen Teil unserer Vergangenheit ausradieren, der zum Verständnis unserer Gegenwart wichtig ist, insbesondere zum Verständnis unseres gegenwärtigen Umgangs mit fremden Kulturen. Wie wir uns von diesem Ausgangspunkt aus weiterentwickeln, ist eine andere Frage. Ein Verharren auf alten Klischees (wie positiv auch immer) ist bestimmt nicht die Lösung. Ein Aufpolieren der Vergangenheit aber auch nicht.

Auch heute noch sind kulturelle Übernahmen zur kulturellen Annäherung unabdingbar. Ein Verbot kultureller Übernahme führt zur Abschottung. Zu Parallelkulturen. Für den so erwünschten „kulturellen Schmelztiegel“ wäre es der Todesstoß.

Außerdem lässt sich zwischen unterschiedlichen Formen der Übernahme unterscheiden. Vergleichen wir zum Beispiel die Übernahme von Dreadlocks und die „Indianer“-Kostüme zum Fasching:

Kostüm: Das Kostüm baut Klischees auf. Es betont kulturelle Unterschiede, anstatt Zusammengehörigkeit zu suggerieren: So sehen wir aus und so die anderen. Indem wir uns als „die anderen“ verkleiden, konstruieren wir ein „Normal“, das wir selbst sind.

Dreadlocks: Dreadlocks werden nicht als Kostüm getragen. Sie wurden in die europäische Kultur übernommen und sind zu einem Teil davon geworden. Als kulturell fremd fallen sie nicht auf. Daher werden auch keine Klischees aufgebaut.

Das soll nicht heißen, dass es eine klare Grenze zwischen guter und schlechter kultureller Übernahme gibt. Zwischen Faschingskostümen und Dreadlocks liegt eine große Grauzone. Wo fangen Klischees an, wo hört kreative Nutzung auf? Und sollte in der Kunst nicht sowieso alles erlaubt sein? Was aber fällt unter Kunst?

Auf der anderen Seite: Hat Kunst das Recht, Menschen zu verletzen? Darf sie Menschen mit Klischees belasten? Wenn sich indigene Völker durch mein Verhalten gestört fühlen, welches Recht habe ich als nicht betroffener Europäer, damit weiterzumachen?

Die Debatte mündet in Fragen, die sich kaum beantworten lassen: Was ist Kunst? Was darf Kunst? Wer meint, dies eindeutig entscheiden zu können, sollte sich zunächst am besten selbst hinterfragen.

Fazit:

Ich habe es ja eigentlich schon in meiner Einleitung gesagt: Es gibt kein Fazit. Das Problem lässt sich nicht endgültig lösen. Genau deshalb sind Diskussionen wichtig. Weder empörte Boykotte noch verständnisloses Kopfschütteln führt uns weiter. Wenn dieser Artikel wenigstens eines zeigen konnte, dann hoffentlich dies: Beide Seiten haben ihre Berechtigung, sollten miteinander reden und versuchen, einander zu verstehen. Kreative Freiheit ist wichtig. Nichts wäre falscher, als Kulturen am Zusammenwachsen zu hindern. Aber eine Kultur, unter der Menschen leiden, ist auch falsch.

Zeigen wir Vernunft und Einfühlungsvermögen. Nutzen wir die Auseinandersetzung, um über Rassismus zu reden, um Machtverhältnisse und Stereotype zu hinterfragen.

*Es muss an dieser Stelle bemerkt werden: Ein Winnetou-Verbot der ARD hat es nie gegeben. Dieses Gerücht ist im Zuge der hitzigen Debatte entstanden und hat in den Medien schnell Verbreitung gefunden.

Ein Artikel von Artemis Lindewind

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