Es gab eine Zeit, in der kaum ein Fantasyroman ohne eine detaillierte Karte der Ländereien gedruckt wurde. Gerade bei umfangreicheren Werken ist es ja auch reizvoll, die Wege der Protagonist:innen dort nachverfolgen und sich die Welt umso besser vorstellen zu können. Das klassische Beispiel ist hier die Mittelerde-Karte aus dem Herrn der Ringe.
Fantasyromane umschreiben oft die Reisen ihrer Charaktere, zeigen ihre Entwicklung anhand von konkreten Orten auf und nutzen dabei gerne die Struktur der Heldenreise nicht nur als Metapher, sondern als richtige Reise durch eine Welt, die nach und nach erschlossen wird.
So eine Welt will jedoch erst einmal erschaffen werden. Wer keine Urban Fantasy in einer Variante unserer Welt verfassen möchte, braucht also eigene Länder oder zumindest ein eigenes Land als Schauplatz. Genau dafür gibt es zahlreiche Werkzeuge des Worldbuilding, unter anderem Programme, mit denen sich Landkarten erstellen lassen. Sie sind bei Spielleitern für Rollenspiele beliebt, aber genauso gut auch für Autor:innen nutzbar. Eine einfachere und schnellere Variante davon sind Generatoren, welche auf Knopfdruck immer neue Karten erzeugen, die man als Vorlage oder Inspiration nutzen kann.
Auch das Nornennetz bietet jetzt ein solches Werkzeug an, um Autor:innen bei ihren ersten Schritten mit neuen Ländern zu unterstützen.
https://dengine.nornennetz.de/map/mapgen.pl
Hier wollen wir erläutern, wie man den größten Nutzen daraus ziehen kann, denn man kann Kartengeneratoren auf verschiedene Weisen verwenden.
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Karte (siehe weiter unten). Sie umfaßt den Namen des Landes, den Umriss und drei verschiedene Arten von Markierungen: Orte (Kreise), Burgen/Ruinen (Rechtecke) und markante Gegenden (Dreiecke).
Die Namen der Orte folgen einer Mischung aus englischen und fantastischen Systematik, wie es in vielen englischen und amerikanischen Werken üblich ist. Als Beispiel sei hier „Game of Thrones“ genannt, wo verschiedene Kulturen widergespiegelt werden, die erkennbar an unsere Kulturen (England, Italien etc.) angelehnt sind, von der Namensgebung bis zur Architektur. Wer das für zu international hält, kann natürlich alle Namen austauschen.
Der einfachste Weg wäre also, die Karte als unveränderte Vorlage für sein Land zu übernehmen. Besser ist es jedoch, sich von der Karte inspirieren zu lassen. Denn der wahre Wert findet sich in den Positionen der Markierungen und damit ihrer Relation zueinander. Hier liegt bereits der Kern zu Geschichten versteckt.
Nehmen wir als Beispiel das Land Shunia.

Das westlichste menschliche Bauwerk ist die Hawnvylcyon-Ruine. Im Norden, Westen und Süden davon ist eine Menge Platz, aber dort gibt es offenbar keine Strukturen, im Gegensatz zum Rest des Landes. Und betrachtet man sich den Südwesten genauer, so fällt auf, daß er wiederum von der Vylivtus Ruine, der Burg Ghavdhdane und der Slallyn Ruine begrenzt wird. Hier liegt es nahe, dass diese Bauwerke den Rest des Landes vor irgendetwas im Westbereich des Landes schützen sollen und einige dabei bereits gefallen sind. Gibt es also Orks im Westen? Barbaren, welche die Gegend mit Überfällen behelligen? Monster, die sich langsam ausbreiten?
Diese Gefahr könnte also, betrachtet man die betroffene Fläche, ein großes Thema in Shunia sein; man denke nur an die Grenzmauer bei Game of Thrones. Und dann haben wir die Stadt Jalburg, die bereits ihre Festung im Namen trägt. Sie könnte die zentrale Bastion sein, in welcher der Widerstand gegen die anstürmenden Kräfte organisiert wird. Die Tatsache, dass einige der Grenzburgen bereits zu Ruinen geworden sind, verrät uns, daß es sich um einen lang andauernden Konflikt handelt, der Generationen überdauert hat.
Wie mag man in den anderen Städten dazu stehen? Sie sind weiter weg, Tagesreisen entfernt. Nimmt man die Gefahr im sicheren Hinterland so ernst wie in Jalburg oder zahlt man da eher widerwillig seine Sondersteuern, um den Kampf zu finanzieren? Es dürfte auch einen deutlichen gesellschaftlichen Kontrast zwischen der militärisch geprägten Jalburg-Siedlung und den noch nicht betroffenen Städten im Osten geben.
Hier tun sich also bereits reichhaltige Konflikte auf: die äußeren zwischen den Invasoren und den Einwohnern, die inneren zwischen den Bewohnern der einzelnen Städte. All diese Elemente haben wir nur aus den Markierungen – und dem Fehlen von Markierungen in bestimmten Bereichen – abgeleitet.
Doch es gibt ja noch mehr Informationen über Shunia.
Ort | Bevölkerung | Besonderheit |
Shoford | 13191 | Sitz der Baronin Stella |
Zalness | 27370 | Sitz der Holzfällergilde |
Anport | 27600 | Sitz der Baronin Emma |
Halven | 8396 | Sitz der Züchtergilde |
Shincrow | 29593 | Sitz von Fürst Oliver |
Hawnport | 7426 | Sitz des Huldenten-Ordens |
Hawnland | 26529 | Sitz der Fenlunlin-Sekte |
Hawnnis | 24316 | Sitz der Erasquin-Sekte |
Jalburg | 29646 | Sitz der Zaneleth-Sekte |
Glenhold | 3630 | Sitz der Hutmachergilde |
Kolwick | 6065 | Sitz der Kürschnergilde |
Falmore | 5699 | Sitz von Fürst Gabriel |
Malway | 29988 | Sitz der Autorengilde |
Jalcrow | 18362 | Sitz von Fürst Dylan |
Relryn | 7060 | Sitz der Varanny-Glaubensgemeinschaft |
Parhold | 8538 | Sitz der Mennoth-Sekte |
Halford | 23168 | Sitz der Erfindergilde |
Aus der Auflistung der Orte geht hervor, daß Jalburg eine der größten Städte des Landes ist. Offenbar wird hier die militärische Schlagkraft gegen die Wesen aus dem Westen konzentriert. Zudem ist es der Sitz der Zaneleth-Sekte. Es wäre plausibel, wenn dieser Glauben sehr kompatibel zu den Soldaten vor Ort wäre: vielleicht geht es dort um die Verehrung eines großen Kriegers oder die Anbetung einer Schutzgottheit. Genauso gut könnte Zaneleth eine Gottheit sein, die mit Kampf oder Krieg zu tun hat. Dann wäre klar, warum ihre Anhänger gerade hier ihre Zentrale eingerichtet haben.
Betrachtet man die anderen Städte vergleichbarer Größe, kristallisieren sich weitere Konflikte heraus. Es sind im Südosten Anport, Sitz der Baronin Emma, und Shincrow, Sitz von Fürst Oliver. Vor allem letzterer ist weit vom Schuß und würde daher einen prächtigen Antagonisten abgeben, der Jalburg zugunsten eigener Projekte nicht mehr unterstützen möchte und schon längst seinen eigenen Aufstieg plant.
Dann gibt es noch die beiden benachbarten Städte Malway (mit der größten Bevölkerung vermutlich die Hauptstadt) und Zalness, dem Sitz der Holzfällergilde. Man darf also davon ausgehen, dass der Norden dicht bewaldet ist. Daneben ist Malway der Sitz der Autorengilde, was ein interessantes Licht auf die dortige Gesellschaft wirft. Es scheint damit so, als sei Shunia ein kulturell hochstehendes Land, das lieber Künstler fördert als sich in Kriege zu stürzen, aber vor Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten aus dem Westen angegriffen wurde und sich seitdem gegen diese Einflüsse wehrt. Dieser Kontrast kann sich durch die gesamte Kultur und Geschichte ziehen. Lieder und Traktate mögen die gute alte Zeit verklären, in der man sich allein dem Alltag und der Kreativität widmen konnte, und die Gegenwart beklagen, in der junge Männer nach Jalburg berufen werden, um dort ihr Leben zu riskieren.
Während sich der regierende Rat in Malway noch den Kopf zerbricht, wie man der Lage endlich Herr werden kann, plant Fürst Oliver bereits einen Umsturz. Wie werden die anderen Adligen – aus Falmore, Jalcrow, Anport und Shoford – reagieren? Auf wessen Seite werden sie sich schlagen? Oder haben sie ganz andere Pläne?
Und inmitten all dieser Spannungsfelder kann endlich, aber dank guter Kenntnis der Situation, der Hauptcharakter erschaffen und an den richtigen Ort gesetzt werden. Ist es ein Soldat, der seinen Marschbefehl nach Jalburg erhält? Ist es der Kommandant der Festung? Ist es die Zofe von Olivers Tochter, die zufällig von den üblen Plänen des Fürsten erfährt? Ist es eine Priesterin von Zaneleth, ein Erfinder aus Halford, ein Magier aus Relryn?
Jeder dieser Ansätze verspricht einen anderen Weg, die Geschichte zu erzählen, die sich in Shunia abspielen wird. Und die Grundlage dafür ist einfach eine sorgfältige Betrachtung des Ergebnisses eines einzigen Laufs des Kartengenerators. Es sind nicht nur ein Umriss, ein paar Namen und einige verstreute Markierungen – es ist jedesmal eine einzigartige Konstellation von Schicksalen, die sich in der Anordnung verbergen.
Die Kunst dabei ist, in den Karten und den dazugehörigen Informationen ein Szenario zu finden, in welchem all das nicht nur Sinn ergibt, sondern eine logische Grundlage eines Plots werden kann. Das obige Beispiel ist eine dramatische Variante, die für einen Roman geeignet ist.
Für eine Kurzgeschichte könnte ein anderer Ansatz Verwendung finden, der die vorliegenden Daten ganz abweichend interpretiert. Vielleicht ist aus dem westlichen Bereich wegen eines zurückliegenden Kataklysmus eine große Wüste geworden, und seitdem verfallen die früheren Grenzburgen, weil sie längst leer stehen. Doch nun bricht der Hauptcharakter auf, um den einstigen Ursprungsort der Katastrophe zu untersuchen. (Ein ganz ähnliches Szenario habe ich übrigens in der Story „Der Magier in der leeren Stadt“ beschrieben.)
Hier fällt also der gesamte politische und militärische Überbau, welcher die erste Variante auszeichnet, weg. Stattdessen konzentriert sich die Story auf einen einzelnen Charakter und dessen Ermittlungen. So unterschiedlich können also die Ergebnisse sein, die auf derselben Karte basieren. Es kommt darauf an, diejenige Interpretation zu erarbeiten, die zum eigenen Stil und Konzept passt.
Der Kartengenerator bietet unzählige Karten für euch und kann somit eine unschätzbare Hilfe sein. Hier ist nochmal der Link:
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All das beruht im Übrigen nicht auf KI; es handelt sich um normale Algorithmen, die weder ihre Inhalte auf Firmenservern speichern noch auf irgendetwas trainiert werden müssen. Und natürlich ist die Nutzung kostenfrei.
Wir wünschen euch viel Erfolg und Inspiration!