Schicksalsstöcke

Myna Kaltschnee: Der blasse Fremde. #Halloween im #Nornennetz

Die Turmuhr schlug dreimal. Noch fünfzehn Minuten bis ein Uhr morgens. Das bedeutete, dass in vier Minuten die letzte U-Bahn fuhr. Marietta eilte die dunkle Straße entlang. Eine Gänsehaut zog sich über ihre Glieder und sie vergrub die Hände tiefer in ihren Jackentaschen. Ihr Atem bildete feinen, weißen Dampf, der sich in der Dunkelheit auflöste. Die nächtliche Ruhe war ihr unheimlich. Normalerweise fuhren hier viele Autos und die Stimmen der Einwohner gaben ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. Jetzt war es ganz still. Lediglich das hektische Klack-klack-klack ihrer Absätze hallte auf dem Asphalt wider.

Als sie die Station erreichte, fuhr die U-Bahn gerade ein. Marietta setzte sich in den hintersten Waggon. Geschafft! In gut fünfundzwanzig Minuten würde sie zu Hause sein. Ihre Lider waren schwer wie Blei. Sie konnte sie nur mit Mühe offenhalten. Die Geburtstagsparty ihrer besten Freundin war zwar schön gewesen, doch sie hatte ihr auch sehr viel Energie abverlangt. Um sich wachzuhalten, beobachtete sie die beiden einzigen weiteren Passagiere. Ein junges Paar saß wenige Reihen vor ihr und knutschte. Sie musste bei ihrem Anblick lächeln. Wie die beiden sich wohl kennengelernt hatten? Marietta liebte es, sich darüber Geschichten auszudenken. Das hatte sie schon als Kind gerne gemacht: Leute beobachten und ihr Schicksal erfinden.

Beim nächsten Halt stieg das Pärchen aus. Marietta zückte ihr Handy, aktivierte das Display und sah auf die Zeitanzeige. Null Uhr sechsundfünfzig. Noch drei Stationen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass jemand einstieg. Sie steckte das Handy zurück in die Tasche. Ihr Blick fiel auf ein paar schwarze Lackschuhe. Sie sah auf. Die Beine des Mannes steckten in schwarzen Stoffhosen, die Taille umschlang ein schwarzer Gürtel mit einem silbernen Schlangenkopf als Schnalle. Sein schwarzes Jackett schmiegte sich perfekt an den schlanken, fast mageren Oberkörper. Blutunterlaufene Augen, die in tiefen schwarzen Augenhöhlen steckten, starrten sie durchdringend an. Sie gehörten in das aschfahle, kantige Gesicht des Mannes, der gegenüber von ihr Platz genommen hatte. Seine schmale Hakennase und seine zurückgekämmten, weißen Haare erinnerten sie an einen Seeadler. Ihr Herz pochte. Warum glotzte er sie so an? Marietta schaute aus dem Fenster, was ihr ziemlich albern vorkam, da die Tunnelwände des U-Bahnschachts nicht sonderlich sehenswert waren. Jedoch konnte sie darin sein Spiegelbild beobachten, ohne ihn direkt ansehen zu müssen. Auch ihr eigenes blasses Gesicht blickte ihr mit aufgerissenen Augen entgegen. – Er starrte noch immer, fast so, als wollte er mit seinen Augen ihren Kopf durchbohren und in ihre Gedanken eindringen. Sie schauderte. Dieser Typ sah aus, als sei er einer Geisterbahn entlaufen. Unruhig knetete sie ihre Hände. Sie hoffte inständig, dass er sie nicht ansprach. Vielleicht stieg er ja gleich wieder aus?

Die Bahn blieb stehen. Noch zwei Stationen. Sie spürte seine brennenden Blicke auf ihrer Haut. Sollte sie ihn ansprechen und bitten, sie nicht so anzustarren? Den Sitzplatz wechseln? Doch Marietta traute sich nicht, sich zu rühren. Ihre Glieder waren ganz steif und angespannt. Ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie hatte das Gefühl, gleich zu ersticken. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen auf und ab. Sie blinzelte, um sie zu verjagen. Ihre Finger krallten sich in das Polster ihres Sitzes. Bitte, lieber Gott, lass mich jetzt nicht umkippen! Es waren doch nur noch maximal zehn Minuten, bis sie endlich aussteigen konnte.

Die Fahrt kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Er beobachtete sie noch immer. Seine schmale Unterlippe zuckte, als er die Augen zu Schlitzen zusammenkniff. Marietta jagte ein eiskalter Schauer über den Rücken. Bitte schau weg, dachte sie. Lass mich in Ruhe. Doch der Fremde heftete weiterhin seinen Blick auf sie. Sie kam sich nackt und hilflos vor, wie ein kleines Kind. Wie damals, als ihre Mutter sie schimpfte, nachdem sie eine zerbrochene Vase gefunden hatte. Was, wenn er versuchte, sie zu vergewaltigen? Es war doch sonst niemand in der U-Bahn. Sie war ihm völlig ausgeliefert. Würde sie sich wehren können? War sie stark genug? Besonders kräftig sah er ja nicht aus. Aber seine Augen funkelten so bedrohlich, dass sie ihm alles zutraute.

Bei der nächsten Station konnte sie es nicht mehr länger ertragen. Sie stand auf und stieg aus. Würde sie den Rest eben zu Fuß gehen. Doch der blasse Fremde erhob sich ebenfalls und folgte ihr auf den Bahnsteig. Verdammter Mist! Ihr Herz pochte wild gegen ihre Rippen, als sie die Treppen hinaufhastete. Bitte, lieber Gott, lass ihn abbiegen. Von hier aus waren es etwa zwanzig Minuten zu ihrer Wohnung. Sie überquerte die leere Hauptstraße und bog in die Hasengasse ein. Doch das Klack-klack-klack ihrer Absätze war nicht das einzige Geräusch. Da war noch das leise Klonk-klonk-klonk der schwarzen Lackschuhe, die ihr unmittelbar folgten. Sie warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter. Er ging etwa vier Meter hinter ihr. Seine Augen starrten sie noch immer an. Marietta bekam eine Gänsehaut und ihr Puls wummerte in ihren Ohren. War ihr vorhin noch kalt gewesen, so brannte sie jetzt innerlich, als hätte sie Fieber. Ihre schweißnassen Finger ballten sich zu Fäusten. Was würde er ihr antun, wenn er sie einholte? Würde er sie wirklich vergewaltigen? Oder vielleicht ausrauben? Sie hatte doch kaum Geld bei sich. Auf der Geburtstagsparty ihrer besten Freundin hatte man sie zu allem eingeladen. Sie ging schneller. Klack-klack-klack-klack. Klonk-klonk-klonk-klonk.

Sie bog in die nächste Gasse ein. Würde er ihr weiter folgen? Ein erneuter kurzer Blick bestätigte ihre Befürchtung. Schweiß rann ihr aus allen Poren. Was, wenn er sie niederschlagen und bewusstlos auf der Straße liegen ließ? Wie ein angefahrenes Tier. Hilflos und für jeden Taschendieb eine leichte Beute.

Noch zehn Minuten bis zu ihrer Wohnung. Klack-klack-klack. Klonk-klonk-klonk. Es gab nur einen Weg, sie musste versuchen, ihn abzuhängen. Marietta rannte los, so schnell sie in ihren hohen Schuhen rennen konnte. Hoffentlich knickte sie nicht um, dann wäre sie verloren und er würde sie in seine Gewalt bringen. Klack-klack-klack-klack. Die Schritte des Fremden wurden leiser. Sie sah über ihre Schulter. Tatsächlich! Sie hatte den Abstand vergrößert. Marietta lief schneller. Die kalte Nachtluft brannte ihr in den Lungenflügeln. Schweiß rann ihr über das Gesicht. Sie war diese Lauferei nicht gewohnt. An der nächsten Kreuzung rechts, dann immer geradeaus. Noch zehn Minuten. Sie warf abermals einen Blick über ihre Schulter. Der Fremde bog gerade ebenfalls um die Kurve, doch der Abstand war mittlerweile so groß, dass sie etwas langsamer laufen konnte. Glücklicherweise, denn ihr ging die Puste aus. Noch fünf Minuten, noch vier, noch drei. Marietta konnte schon ihren Wohnblock in der Ferne erkennen.

Sie verlangsamte ihr Tempo nochmals und sah sich um. Er war tatsächlich verschwunden. Marietta japste nach Luft. Gott sei Dank. Ihr Herz raste. Sie war völlig außer Atem. Ihre Haare klebten ihr im Gesicht. Sie wischte sie mit dem Handrücken aus den Augen.

Sie bog in ihren Hauseingang ein und fischte die Schlüssel aus der Jackentasche. Gleich würde sie in ihrem warmen Bett liegen und selig einschlummern.

Just in diesem Moment packte sie eine eiskalte Hand an der Schulter und riss sie herum. „So einfach entkommst du mir nicht, Liebchen.“

Marietta wollte schreien, doch sie bekam keinen Ton heraus. Hilflos zappelte sie in den Fängen des blassen Fremden.

Er funkelte sie mit seinen blutunterlaufenen Augen an, ehe er seine schmalen Lippen öffnete und seine Fangzähne entblößte.


Bildnachweis @Elenor Avelle

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diandralinnemann
6 Jahre zuvor

Huch? Ein Vampir, der ein Spiegelbild hat? Damit hätte ich nicht gerechnet. 🙂