Schicksalsstöcke

Literarische Weltreise zum Frauenwahlrecht – Emily Nasrallah (Libanon)

Von Ungarn aus reisen wir in den Libanon.

Eine weiße Weltkarte mit zwei goldenen Flecken in der Position von Ungarn und dem Libanon. Ein roter Pfeil führt vom ersten zum zweiten.

Abi Rashed – mit Pseudonym Emily Nasrallah – wurde 1931 in Kfeir im Libanon geboren, zwölf Jahre, bevor das Land seine Unabhängigkeit erhielt. Davor war der Libanon Teil des osmanischen Reiches und unter Militärverwaltung. 1943 wird das Land unabhängig und 1952 bekommen auch Frauen das Wahlrecht. Im Vergleich zu anderen arabischen Ländern scheint der Libanon modern.

Auch die Erzählungen meiner Mutter, die 1953 in Beirut geboren wurde und dort aufwuchs, spiegeln ein sehr modernes Land wider, in dem eine multikulturelle Gemeinschaft lebte. Die österreichische Verwandtschaft stellte sich Handel mit Kamelen vor, während meine Mutter und ihre Freundinnen in modernen Kinos saßen und Mode trugen, die erst Jahre später in Deutschland und Österreich ankommen würde.

Doch das meiste davon war und ist Fassade, die eine zutiefst patriarchale Gesellschaft verdeckt. So mussten Frauen einen gewissen Bildungsgrad vorweisen, um tatsächlich wählen zu dürfen. Bei den Männern gab es eine solche Beschränkung nicht. Die gesamte gesellschaftliche Struktur baute und baut noch immer auf die Frau als Teil der Familie, die von den Männern geleitet wird. Bei einem System, das darauf ausgelegt ist, Frauen hinter dem Herd zu halten, wird schnell klar, wie viele in dieser Situation auch heute tatsächlich wählen können. Die Familienehre ist ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft und dazu gehört auch ein angemessenes Verhalten der Frau.

Meine Mutter berichtet bei Erzählungen aus ihrer Kindheit und Jugend nicht nur von den modernen Seiten des Libanon. Sie erzählt auch von Köpfen junger Frauen, die zur Wiederherstellung der Ehre abgeschlagen worden wären. Hin und wieder konnte sie diese Körperteile auf der Fahrt zur Schule am Straßenrand sehen. Folgen eines autoritären Beziehungssystems, in dem die männlichen Nachkommen bevorzugt werden und Gehorsam von den weiblichen eingefordert wird. Frauen werden sogar vom Staat nicht als Individuum gesehen, sondern sind Teil einer sozialen Einheit. Das zeigt sich auch darin, dass sie entweder der Regierungsnummer des Vaters oder eines Ehemannes zugewiesen werden und keine eigene bekommen.

In der dörflichen Gemeinschaft von Abi Rashed gab es keine weiterführende Schule. Die Grundschule ging nicht einmal bis zur dritten Klasse. Das waren keine guten Voraussetzungen für Abi Rashed, sich jemals am politischen Leben im Libanon beteiligen zu können. Sie sollte Bäuerin werden, doch zu ihrem Glück hatte sie einen Onkel, der nach New York ausgewandert war und sie unterstützte. So konnte sie sich gegen den Willen ihres Vaters stellen, studierte an der Amerikanischen Universität Beirut Pädagogik und arbeitete als Lehrerin, Journalistin und Schriftstellerin.

Besonders gerne thematisierte sie in ihren Büchern das Dorfleben im Libanon, die Emanzipationsbestrebungen der Frauen und den libanesischen Bürgerkrieg. Die Entwurzelung durch den Krieg ist wiederkehrender Inhalt ihrer Bücher. Eines ihrer zentralen Werke ist „Septembervögel“.

Durch die Kriegszustände war ein landesweites demokratisches Wahlsystem nicht dauerhaft gewährleistet. Abgesehen davon, dass das System bis heute auf mächtigen Dynastien und elitären Familien aufbaut und stark durch die verschiedenen Religionsgemeinschaften bestimmt wird. Das führt dazu, dass Frauen kaum jemals in eine politisch wichtige Position gelangen. Meist halten sie die Plätze für einen männlichen Nachkommen besetzt, bis dieser das Amt einnehmen kann. Gewählt wird nach dem „Patron-Klientel-System“. „Political familism“ führt dazu, dass das patriarchale Familiengebilde mit der politischen Kultur des Libanon verschmilzt. Frauen wählen unter dem Einfluss von Ehemann, Bruder oder Vater für das Oberhaupt eines großen Clans, das ihrer Familieneinheit zugehörig ist.

Nichts davon hielt Abi Rashed davon ab, sich zeit ihres Lebens für Menschenrechte einzusetzen und dem Patriarchat zu trotzen. Offen und kritisch setzte sie sich mit den Problemen ihres Landes auseinander und schrieb über 50 Bücher. Die Liebe zum Libanon ist ihr immer geblieben. 2018 starb sie.

Quellen:

Autorin: Elenor Avelle

Der nächste Beitrag führt uns ab dem 04.02.2020 nach Ägypten.

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