Das Kalenderblatt
Da dies ein Kalenderblatt ist, könnt ihr es hier downloaden und ausdrucken.
Leider passt nicht die gesamte Geschichte auf die grafische Darstellung, deswegen gibt es diesen Beitrag:
Herbstmond
»Soll nicht lieber ich fahren?«, fragte die blasse junge Frau vom Rücksitz aus.
Der ältere Herr am Steuer des Jaguars lächelte. »Jetzt lass doch deinem Onkel den Spaß, Gwendolin, Liebes.«
»Aber du kennst doch den Weg gar nicht.«
Er deutete mit einer lässigen Handbewegung auf das Navigationsgerät, das nachträglich über der Mittelkonsole angebracht worden war. »Nichts trauen sie einem zu, die jungen Dinger.«
Der Blick, den er zur Seite warf, galt Friederike. Die wusste immer noch nicht recht, was genau sie dazu getrieben hatte, der Einladung Albrecht von Achtens zu folgen, das Wochenende mit ihm, seiner Nichte und deren Freund auf einer alten Ritterburg in der Pfalz zu verbringen. Man wollte dort den Herbstmond begehen.
Neuerdings stand ihr wohl der Sinn nach Abenteuern. Nun ja … bei solchen Begleitern …
Die Septembersonne sandte ihre noch immer wärmenden Strahlen über die goldenen Weinberge entlang des Weges, die der Lese harrten, und drang am Fuß eines bewaldeten Berges sogar durch die nicht mehr ganz so grünen Baumwipfel. Friederikes ungewöhnliche Gefährten hatten längst die Sonnenbrillen gezückt.
Und obwohl eben jenes Navigationsgerät kurz vor dem Ziel versagte, erreichten sie dank Gwendolins Ortskenntnissen gegen fünf Uhr nachmittags die Burg Montcachot und fuhren durch das weit geöffnete Tor in den Hof.
»Du kannst da oben parken.« Gwendolin deutete auf einen staubigen Platz an der Burgmauer, wo bereits einige Karossen mit teilweise ausländischen Kennzeichen abgestellt waren.
»Oh, sind die Schotten auch da?«, kam es von Lysander, ihrem Freund. Mit dem Kinn nickte er in Richtung eines betagten Bentleys.
»Sieht ganz danach aus«, erwiderte sie. »Und die Franzosen ebenso. Na, dann kannst du ja wieder mit Sarah fachsimpeln.«
Beide grinsten.
Friederike überlegte. Lysander promovierte gerade in Molekularbiologie, wenn sie sich richtig erinnerte. Über was würde er sich wohl mit dieser Sarah unterhalten?
Sie stiegen aus.
»Ach, ist das geil wieder hier zu sein!« Gwendolin streckte sich. Sicher ließ sie den Blick hinter ihrer Sonnenbrille über das Gelände wandern.
Sonnenbrillen. Alle hatten eine solche auf der Nase sitzen – alle bis auf Friederike. Ehe die diesem Umstand besondere Bedeutung zumessen konnte, ertönte eine Frauenstimme vom Wohnhaus der Burg. »Hey, da seid ihr ja!«
»Emma!« Gwendolin flog ihr entgegen und stellte ihr nach einer herzlichen Umarmung ihren Onkel und Friederike vor. Lysander war hier bereits bekannt.
»Kommt mit, ich zeig euch die Zimmer!« Die Frau, die in Friederikes Alter sein mochte, wies den Weg, ganz ohne Sonnenbrille.
Heiteres Kinderlachen ertönte von irgendwoher.
Friederike meinte zu träumen. Da weilte sie nun auf einer alten Burg in der Pfalz und wusste nicht, ob das nicht ein ziemlich gefährliches Unterfangen war, oder ob Albrecht und Gwendolin nicht einfach die besten Menschen waren, denen sie je begegnet war. Sie entschied sich für letzteres und wagte es, still in sich hinein zu lächeln.
Am frühen Abend trafen sie sich im Garten hinter dem Wohnhaus. Du liebe Güte, weilten da viele Leute! Ein Rothaariger mit schottischem Akzent, eine wunderschöne junge Frau, die den zahlreichen Kindern auf Französisch etwas zurief … der Ort sprühte vor Leben!
Albrecht saß auf einer der Bierbänke und strahlte über das ganze Gesicht. »Meine Liebe, da sind Sie ja! Ist das nicht herrlich hier?«
»Ja …« Zu mehr war sie nicht in der Lage, so sehr überwältigte sie der Anblick.
»Wussten Sie, dass wir hier ganz viele Musiker haben?«
»Ähm … nein.« Woher auch?
»Ja!« Albrecht lachte voller Begeisterung. »Der junge Schotte da ist Sänger und spielt so manches Instrument, und er scheint sogar meinen lieben Neffen zu kennen!« Er wies auf den Mann mit der wilden roten Mähne, der eben gutgelaunt zwei Zwillingsbrüder zu fangen versuchte.
Bald brannte ein Lagerfeuer, während die Sonne langsam unterging und dem fülligen Mond Platz machte.
Das war also die Herbstmondfeier ihrer neuen Freunde. Steak und Würstchen vom Grill, und reichlich Wein und Bier dazu. Freude allenthalben darüber, dass die dunklen Nächte von nun an länger als die Tage sein würden. Friederike fühlte sich wohlig entspannt inmitten dieser Leute, die so ganz anders waren als die Menschen, mit denen sie sonst zu tun hatte.
»Hey folks«, tönte der Rothaarige, den sie alle Mac nannten und der wohl der Vater der Zwillinge war. »Wollen wir ein bisschen Musik machen?«
Sogleich wurden Instrumente aus dem Haus geholt und rings um das Lagerfeuer aufgebaut.
»Derius, gibt’s hier Strom?«, fragte eine junge Frau mit Verweis auf ihr Keyboard.
»Warte, ich hole ein Kabel.«
Friederike begriff nicht recht, was um sie herum geschah. Fasziniert beobachtete sie die anderen, die sich kurz abstimmten und dann zu musizieren begannen. Wunderbare Melodien erfüllten die Luft. Pop, Rock, Klassik – alles war vertreten.
»Könnt ihr Vivaldi?«, fragte Sarah, die Französin, mit einem Lächeln im Gesicht.
»Oh ja!«, pflichtete Albrecht ihr bei und wandte sich leise an Friederike. »Ich habe Antonio seinerzeit in Wien kennengelernt.«
Ja, das traute sie ihm durchaus zu.
»Ma chère, das habt ihr abgesprochen!« Mac schaute belustigt zu Sarah, die offensichtlich die Mutter seiner Zwillinge war.
Sie grinste schelmisch zurück. »Sie haben ganz viel geübt!«
So sammelte sich das Orchester, dessen jüngste Mitglieder eben diese Zwillinge waren, die gerade mal die Grundschule besuchen mochten. Mit verschämtem Grinsen hielten die beiden ihre Geigen umklammert.
»Derius, wie sieht’s aus?« Mac schaute in Richtung des Burgherrn.
»Ich glaube, wir haben hier eine außergewöhnliche Cellistin unter uns«, erwiderte der mit einem feinen Lächeln.
»Ja!«, pflichtete ihm Albrecht bei. »Friederike, bitte, Sie müssen unseren Freunden Ihr Können zeigen!«
Ehe sie begriff, wie ihr geschah, reichte Derius ihr sein Cello.
»Was?« Sie meinte, aus einem Traum zu erwachen, und mühte sich vergebens um Orientierung.
»Spielen Sie uns ein wenig Vivaldi?« Sarah lächelte ihr aufmunternd entgegen.
»Okay …«
»Wow, klasse!« Gwendolin klatschte begeistert in die Hände. »Krieg ich Sie endlich auch mal zu hören!«
Albrecht lehnte sich genüsslich zurück. »L’autunno!«
Und so ertönte bald der Herbst aus Vivaldis Vier Jahreszeiten im Garten hinter der Burg. Friederike vergaß völlig, in welch illustrem Kreis sie sich gerade aufhielt. Ein Gefühl nahm von ihr Besitz, das sie zunächst gar nicht recht einordnen konnte. Ihre Finger flogen geradezu über die Saiten des Instruments, während Mac seiner Geige die wunderbarsten Töne entlockte. So beschworen sie gemeinsam den Herbstmond zu dieser Zeit des Gleichgewichts zwischen Tag und Nacht. Ja, genauso hatte sich das damals angefühlt, als sie und ihre Kommilitonen verbotenerweise auf der Thingstätte bei Heidelberg ihr nächtliches Konzert veranstaltet hatten. Herrlich! Erst als alle klatschten, erwachte Friederike aus ihrer Reverie und staunte über die Anerkennung, die ihr entgegenschlug.
»Bravissimo!« Albrechts Applaus ehrte sie am meisten. »Fantastico!«
Auch die anderen Vampire gaben ihrer Begeisterung Ausdruck, und Friederike, die normalerweise vor Angst erstarrt wäre, schaute glücklich in die Runde.
Eine Geschichte von Odine Raven