Schicksalsstöcke

Die Realität kennt keine Dystopie

Warum sich Zukunft nicht in Genre teilen lässt und warum Genre in der Literatur trotzdem Sinn ergeben können.

Ein Artikel von Artemis Wind

 Die Literaturgenre der Utopie und Dystopie lassen sich der Science Fiction zuordnen und überlappen sich stark mit verschiedenen Punk-Genres. Unter einer Utopie wird eine positive Zukunftsvision verstanden. Das negative Gegenstück wird als Dystopie bezeichnet. Aber lassen sich Zeitalter so einteilen?

Lange habe ich daran gezweifelt. Meinen eigenen Roman habe ich widerwillig als Utopie klassifiziert und hinzugefügt: „Unter einem anderen Blickwinkel könnte es aber auch eine Dystopie sein.“

Ich habe den Roman mit der Intention verfasst, ein alternatives politisches System auszuprobieren. Das System bietet Vorteile gegenüber den Regierungsformen, die ich aus meiner Wirklichkeit kenne. In der literarischen Ausführung habe ich jedoch schnell auch die Nachteile erkannt. Am Ende ist das System gescheitert, indem sich die Theorie dahinter – grob gesagt – zu weit von der Realität entfernt hat. Trotzdem war die alternative Gesellschaft zunächst als bessere Alternative angelegt.

Was ist das nun? Gute oder schlechte Zukunft?

Die gleichen Erfahrungen habe ich beim Lesen gemacht. In der fiktiven Zukunft von Distress (Greg Egan) wird die Natur praktisch vollständig durch den Menschen beherrscht. Dank eines regulierbaren Hormonhaushalts sind die Menschen stets zur rechten Zeit wach oder müde. Jetlags sind kein Problem mehr. Geschlechter sind wählbar. Die Leute tragen in den Körper integrierte Geräte wie Kameras, auch die Pflanzen- und Tierwelt wird im ökologischen Gleichgewicht gehalten und ist reibungslos in die Zivilisation integriert.

Als ich jemandem von dem Roman erzählt habe, war die Person schockiert. Sie hat das Buch spontan als Dystopie eingeordnet. Umso verblüffter war sie, als sie erfuhr, dass es sich um eine Utopie handelt.

Ich bin darüber ins Nachdenken gekommen. Welche moralischen Maßstäbe legen wir an eine fremde Gesellschaft an? Kann es sein, dass sie uns allein aufgrund ihrer Fremdartigkeit abschreckt? Wie aber ist das mit der Beliebtheit fremder Welten im Fantastik-Genre vereinbar?

Zur Zielsetzung

Wie gesagt, stand ich der Einteilung in Utopie und Dystopie lange skeptisch gegenüber. Im Laufe meiner Untersuchung hat sich mein Standpunkt gewandelt. In diesem Artikel möchte ich darlegen, warum. Es darf deshalb nicht verwundern, wenn meine subjektiven Vorbehalte in den Artikel mit eingeflossen sind und einige Dystopie-Fans vielleicht die Augen verdrehen. Ich möchte zeigen, was diese Vorbehalte entkräftet hat.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten? – Passt Wirklichkeit in Genres?

Nach welchen Kriterien Menschen Gesellschaften bewerten und inwieweit Fiktion mit der Realität vergleichbar ist

Atomkriege, Roboterdiktaturen, postapokalyptische Ruinenstädte oder lebensfeindliche Betonwüsten: So sieht die Welt einer typischen Dystopie aus.

Die Utopie besticht durch grüne Wohnanlagen, saubere Straßen und eine gesunde Umwelt.

So eindeutig stellt sich die Weltlage natürlich zu keiner Zeit dar. Zum einen finden verschiedene Ereignisse parallel zueinander statt. Gerade in unserer modernen, global vernetzten Welt machen wir die Erfahrung, wie unterschiedlich Lebensrealitäten zu ein und demselben Zeitpunkt aussehen können. Während die Menschen Europas um 2010 mehrheitlich eine utopische Gegenwart genossen, sahen die Verhältnisse in anderen Erdregionen dystopisch aus. Selbst innerhalb eines Gebietes oder einer Kultur gibt es jedoch unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Wirklichkeit. Etwa könnte eine Person um 2010 die europäische Konsumgesellschaft mit ihrem Überfluss als dystopisch empfinden.

Vergleichen wir die Realität mit der Literatur, stellen wir keinen Unterschied fest: Auch dystopische Welten vereinen gravierend unterschiedliche Lebensumstände. Das Kapitol und die Distrikte in der Buchreihe Panem (Suzanne Collins) liefern dafür ein Paradebeispiel.

Es wäre ein interessantes Experiment, Panem aus der Sicht eines privilegierten Kapitolbewohners zu erzählen. Würde diese andere Perspektive das Buch zur Utopie machen?

Ich glaube ehrlich gesagt nicht. Denn natürlich gibt es Überschneidungen in dem, was Menschen als utopisch oder dystopisch wahrnehmen. In vielen Köpfen ist ein utilitaristischer Ansatz verankert.

Als Utilitarismus wird eine Ethik bezeichnet, die sich so objektiv wie möglich am Zweck orientiert. Das utilitaristische Ideal liegt im größtmöglichen Glück für eine größtmögliche Zahl an Leuten. Wie automatisch viele Menschen utilitaristisch urteilen, demonstrieren Dilemma-Szenarien. Werden wir gefragt, ob ein Zug ein oder zwei Menschen überfahren soll, wenn das die einzigen Optionen sind, antworten wir in der Regel „einen“. Geht es um ein Kind oder ein altes Ehepaar, kommen wir ins Grübeln – und ins utilitaristische Rechnen: Ein langes Leben oder zwei kürzere Leben?

Da eine große Ungleichheit wie in Panem einer utilitaristischen Beurteilung nicht standhält, wird sie unabhängig von der Erzählperspektive wahrscheinlich dystopisch wahrgenommen.

Andererseits leben wir, global betrachtet, tatsächlich in einer großen Ungleichheit, ohne den Eindruck des Dystopischen. Offenbar sind wir bei der Beurteilung unserer Wirklichkeit stärker der eigenen Perspektive unterworfen. Aber kann der Dystopie nicht auch Schwarz-Weiß-Malerei vorgeworfen werden?

In unserer Wirklichkeit sind sich viele privilegierte Menschen ihrer Privilegien zumindest bewusst. Einige bekämpfen sie sogar. Wo sind in der Apokalypse die NGOs? Wo sind die Spendenprojekte? Ich kann mir keine Dystopie ohne Hilfsorganisationen und Menschenrechtsaktivismus vorstellen.

Aus diesem Grund konnte ich Dystopien nie viel abgewinnen. Mein Gehirn akzeptiert sie nicht als real. Die angebotene Welt fühlt sich wie ein gedanklicher Fremdkörper an. Interessant, aber eindeutig künstlich. Am Ende frage ich mich, was ich mit dem angebotenen Szenario soll: Eine Figur bekämpft die abwegigen Probleme einer Zukunft, die niemals eintreten wird, weil nun einmal niemals alle Menschen grausam oder so systemgefügig wären. Ich kenne dystopische Realität aus Dokumentationen, aus den Nachrichten und Filmen wie Slumdog Millionär. Ich weiß, dass diese Wirklichkeit auch auf meine Kosten geht und dass ich mehr dagegen tun könnte. Trotzdem kann ich mir beim besten Willen kein Europa vorstellen, das publikumswirksame TV-Shows mit Teenagern auf Leben und Tod veranstaltet. Amnesty international würde sofort eingreifen. Die Proteste wären riesig.

Dann fällt mir das antike Rom ein. Mir wird klar, dass das Szenario einmal wirklich Realität gewesen ist. In einer hochentwickelten Zivilisation mit Philosophen und rechtsstaatlicher Demokratie. Eine Demokratie allerdings, in der ausschließlich Männer zur Wahl zugelassen waren, die rücksichtslos in fremde Länder einmarschiert ist, die Gefangene versklavt oder in die Arena geschickt hat. Was ich als Europäer des einundzwanzigsten Jahrhunderts ungeheuerlich fände, galt in der vorchristlichen römischen Republik als normal.

Hier tritt die kulturelle Ferne in Erscheinung. Wie sich Kultur entwickelt, zeigt sich etwa bei der Lektüre älterer Texte: Wortwahl, Satzlängen, der gesamte Sprachstil macht sie für Viele zur Qual. Darüber hinaus verhalten sich die Figuren aber auch anders, denken anders, bewerten Situationen anders, Aufbau und Erzählweise unterscheiden sich.

Der Historiker Jacob Burckhardt behauptete sogar, ein historischer Roman, der einem modernen Publikum gefalle, sei kein historischer Roman. Ein echter historischer Roman müsse so anstrengend zu lesen sein wie ein Geschichtsbuch, weil seine Perspektive ihrer Zeit verhaftet und der Gegenwart darum fremdartig vorkommen müsse.1

Die Kultur, in der wir aufwachsen, prägt maßgeblich unsere Subjektivität. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Bewertung von außen. Die Außenperspektive kann ein völlig anderes Bild ergeben als die Innenperspektive.

Unter diesen Umständen können wir kaum über die Wahrscheinlichkeit eines Szenarios urteilen. Praktiken, die uns abwegig vorkommen, können in einer anderen Gesellschaft normal sein. Denn nicht nur die Außen- auch die Innenperspektive bleibt unzuverlässig. Der Alltag scheint selbstverständlich stets die richtige, sinnvolle Ordnung zu haben.

Dieses Phänomen tritt auch bei Egans Distress auf. Für den Protagonisten ist die eigene Gegenwart richtig. Entsprechend kann der Autor sie utopisch darstellen, denn sie wird einer möglichst objektiven utilitaristischen Beurteilung gerecht. 

Bloß uns als Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts bleibt sie möglicherweise schwer zugänglich.

Kunst und Wirklichkeit

Warum sich Fiktion von der Realität unterscheidet

Weiterhin kann den Genres eine Neigung zur Eindimensionalität vorgeworfen werden. Die Klassifikation verleitet unweigerlich dazu. Allerdings lässt sich die Überzeichnung auch als literarisches Charakteristikum auffassen.

Dass für die Kunst andere Maßstäbe gelten als für die Wirklichkeit, ist bekannt. Das ergibt sich aus ihrem verschiedenartigen Entstehungskontext heraus.

Kunst ist das Produkt einer Interaktion zwischen Umwelt und Subjekt. Selbst die zufällig in der Natur aufgefundene Kunst bedarf eines solchen Subjekts, das sie als Kunst erkennt. Ohne wahrnehmungs- und empfindungsfähige Wesen bleibt die Welt ein System aus Naturgesetzen und unbelebter Materie.

Was wir im engeren Sinne unter Kunst verstehen, unterliegt darüber hinaus einer Absicht. In der Umwelt regiert der Zufall. Ein Kunstwerk hingegen entsteht planmäßig. Es folgt einer bestimmten Idee. Dies gilt umso mehr für ein zeitaufwendiges Werk wie einen Film oder einen literarischen Text. Beide sind auf eine Absicht zugeschnitten. Szenenabfolge, Dialoge, Schauplätze, Wetterlagen: alles erfüllt einen Sinn.

Wirklichkeit passiert. Sie ist einfach da. Sie folgt keinem Sinn, keinem Ziel, nimmt keine Rücksicht und kennt auch kein gut oder schlecht, keine Utopie, keine Dystopie. Allenfalls wir als Subjekte können sie nachträglich als eines von beidem interpretieren.

Natürliche Kunst ist ein Widerspruch in sich. Bereits bei Aristoteles taucht dagegen der Begriff der „Mimesis“ auf: der Nachahmung der Wirklichkeit. Besonders ab dem achtzehnten Jahrhundert nimmt unser modernes Kunstverständnis Gestalt an. Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, Wirklichkeitsnähe, Realitätstreue … Das Wortfeld ist so umfangreich, wie die Ausführungen darüber sein könnten. Heutzutage ist der Begriff der Glaubhaftigkeit meinem Eindruck nach am gängigsten. Glaubhafte Figuren und plausible Motive sind ein Qualitätsmerkmal, das mehrheitlich von der Literatur erwartet wird. Demgegenüber stehen absichtsvoll abstrakte Texte.
Es ist interessant, dass gerade diese abstrakten Texte manchmal spöttisch „sehr künstlerisch“ genannt werden. Der Euphemismus für „unverstehbar“ verweist auf deren höheren Verfremdungsgrad und einen in der Tat höheren Anteil an künstlerischer Bearbeitung. Ein Wirklichkeitsanteil jedoch bleibt stets erhalten. Strenggenommen ist keine Kunst reine Kunst. Das Kunstwerk entsteht ja gerade aus der Verbindung von individueller Idee und Wirklichkeit. Am einfachsten lässt sich das an einem Klumpen Lehm verdeutlichen. Der Lehm, ein natürlicher Stoff, wird absichtsvoll zu einer Figur geformt und damit zur Kunst. Dabei kann sich das formende Subjekt an der Natur orientieren und beispielsweise ein Gesicht modellieren. Es kann auch von der Natur abstrahieren und eine Fantasiefigur erstellen. Selbst die Fantasiefigur wird jedoch natürliche Anteile aufweisen: einerseits den Lehm als natürlichen Baustoff, darüber hinaus aber auch Kurven oder Geraden, Winkel, raue oder glatte Oberflächen. Nichts davon ist erfunden.

Das Gesicht hingegen orientiert sich an der Natur, ist jedoch künstlerisch gestaltet. Hinter der Form steckt eine Absicht. Das gestaltende Subjekt wollte etwas damit bezwecken. Das Gesicht kann idealisiert oder besonders hässlich sein. Orientiert es sich so genau wie möglich am natürlichen Original, ist auch das eine Absicht.

Ebenso verhält es sich mit einem literarischen Text. In Büchern agieren Personen nach mehr oder weniger glaubhaften Motiven. Sie agieren an mehr oder weniger wirklichkeitsnahen Schauplätzen. Man könnte sagen: Literatur ist eine Kollage aus Wirklichkeitsschnipseln. Sie zerlegt die Umwelt in ihre einzelnen Elemente und fügt sie nach einer bestimmten Absicht neu zusammen.

Nach diesem Exkurs in die Kunsttheorie wird deutlich, weshalb Utopien und Dystopien als Kunstgattungen Sinn ergeben können, ohne zwangsläufig der Realität entsprechen zu müssen. Von einem Kunstwerk Wirklichkeitsnähe zu verlangen, ist in gewisser Hinsicht sogar absurd.

Was wir hingegen als Maßstab anlegen können, ist seine Wirkung.

Vermutlich erhebt Jacob Burckhardt seinen Vorwurf gegen den historischen Roman zurecht. Allerdings erfüllt ein historischer Roman auch gänzlich andere Anforderungen als eine historische Quelle. Wenn er dem Geschmack eines modernen Publikums gefällt, ist er vielleicht nicht historisch, wird jedoch seiner Aufgabe gerecht.

Auch muss ein Roman keineswegs realistisch sein, um uns realistisch vorzukommen. Filmfiguren etwa scheinen mehrheitlich natürlich zu sprechen. Wer einen realen Dialog verschriftlicht, wird jedoch feststellen, dass er sich unbearbeitet für kein Drehbuch eignet, und merken, wie wohl ausformuliert auch scheinbar natürliche Sprache ist.

Dem gegenüber stehen Satiren, Karikaturen, Cartoons, Werke des magischen Realismus und unüberschaubar viele Verfremdungsformen.

Knapp zusammengefasst: Literatur darf alles, sie muss bloß funktionieren.

Der Sinn der Zuspitzung

Wozu sich Fiktion von der Realität unterscheidet

Was aber kann die Literatur alles?

Stärker noch als andere Genres mögen Zukunftsromane auf ein Ergebnis hin zugeschnitten sein, wenn sie bewusst als Utopie oder Dystopie angelegt sind. Nachdem dieses Charakteristikum als Stilmittel gerechtfertigt wurde, scheint es geboten, auch auf seinen Zweck einzugehen.

Fiktive Welten haben Modellcharakter. Für Zukunftsentwürfe gilt das insbesondere. Sie lassen sich als literarisch ausgeformte Gedankenspiele betrachten, für die Überzeichnungen wiederum typisch sind. Sie denken eine Idee zu Ende, spinnen sie in ihr Extrem weiter und hinterfragen sie dadurch. Sie sind in dieser Funktion mit dem Beispiel verwandt, wie es in Erörterungen zur Anwendung kommt. Beispiele veranschaulichen nicht bloß, sondern legen durch gezielte Zuspitzung auch Schattenseiten offen. Wie im Einstieg dargelegt, habe ich dieses Verfahren im Falle meiner eigenen Utopie bewusst gewählt. Aber natürlich gibt es viele weitere Beispiele.

Die Kurzgeschichte Dezimal von Simon Krappmann, abgedruckt in der Anthologie Body Enhancements (Hg. v. Sandra Bollenbacher / Dr. Benjamin Ziech), führt etwa die Grenzen des Utilitarismus vor Augen. Um der menschlichen Überbevölkerung entgegenzuwirken, bestimmt hier ein Zufallsgenerator jährlich ein Zehntel, das sterben muss. Zufällig, ohne Ansehen der Person. Die maschinelle Neutralität wurde als gerechteste Option betrachtet.

Obwohl ich eine solche Lösung für unwahrscheinlich halte, wirft sie Fragen auf. Sie fordert unser moralisches Urteilsvermögen heraus.

Derselbe Effekt tritt bei Distress auf. Warum erscheint uns die utilitaristisch optimale Zukunft dystopisch? Ist sie es wirklich oder sprengt sie bloß unseren gegenwärtigen Horizont?

Dystopien können als Warnungen fungieren, Utopien Lösungswege ausprobieren. Stets stellen sie Fragen: Funktioniert das wirklich? Ist das ein erstrebenswertes Ziel? Wohin führt es? Sie können dabei auch der eigenen Gegenwart einen Spiegel vorhalten und fragen: Funktioniert unsere Gesellschaft eigentlich richtig?

Selbst eine stark überzeichnete Utopie kann in ihrem Kitsch Methode haben.

Fazit

Wie sieht es nun aus? Gibt es sie wirklich, die Dystopie? Kann die Zukunft utopisch sein? Handelt es sich um sinnvolle Kategorien oder zwängen wir unsere Kunst in ein Korsett?

Im ersten Abschnitt wurde die Dystopie (oder Utopie) einem Realitätscheck unterzogen. Warum sie diesem nicht standhält, jedoch auch nicht standhalten muss, wurde im zweiten Teil erläutert. Zuletzt wurde erklärt, warum sie ihm vielleicht nicht einmal standhalten sollte.

Utopien und Dystopien entsprechen dem menschlichen Bedürfnis, die Umwelt zu bewerten. Auch reale Zeitalter können dystopiesiert oder utopiesiert werden. Das beweisen entsprechende Interpretationen der Wirklichkeit in Gegenwartsromanen. In Christian Krachs Faserland wird selbst der scheinbar utopische Überfluss um die Jahrtausendwende zur Dystopie.

Trotzdem gibt es Übereinstimmungen in dem, was wir als moralisch richtig, gut oder utopisch empfinden. Vergleichsweise objektiv und in ihren Grundzügen bei vielen automatisch verankert ist eine utilitaristische Ethik.

Die Frage, ob sich allgemeine Charakteristika des Dys- beziehungsweise Utopischen finden lassen, muss sowohl mit „ja“ als auch mit „nein“ beantwortet werden. In der Regel bewerten wir Szenarien nach ihrem Nutzen für eine möglichst große Mehrheit. Eine solch rationale Moral kann jedoch gerade durch Dystopien auch herausgefordert werden.

Dass Zukunftsromane teilweise weit von der Realität, sogar weit von der Wahrscheinlichkeit abweichen, ist darum durchaus sinnvoll. Gerade durch die Übersteigerung können solche ethischen Grenzen ausgelotet werden.

Sie erfüllen dabei die Funktion eines Beispiels. Sie können vor einem Ergebnis warnen, das im schlimmsten Falle eintreten könnte. Sie können auch einen Idealfall illustrieren.

Den Nutzen solcher Beispiele belegt deren häufige Verwendung in Argumentationen. Auch in der Wissenschaft kommen Modelle und Theoreme zum Einsatz. Dass Szenarien aus der Wissenschaft sogar in publikumswirksame Fiktionen übersetzt werden können, beweist der Film Matrix von Lana und Lilly Wachowsky.

Obwohl sich zwischen Dystopie und Utopie eine breite Grauzone auftut, ergeben die Genrebezeichnungen also Sinn. Für die Einteilung entscheidender als das Ergebnis dürfte dabei die Zielsetzung der Geschichte sein: Geht es darum, ein möglichst gut funktionierendes System zu konzipieren, oder darum, eine Gefahr zu illustrieren?

Diese Entscheidung dürfte den Grundstein für den Ton und die Atmosphäre des Romans legen.

  1. Vgl. Burckhardt, Jacob. Zit. Nach: Fuhrmann, Horst: Umberto Eco und sein Roman „Der Name der Rose“. Eine kritische Einführung. In: „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“?. Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman „Der Name der Rose“. Hg. v. Max Kerner. 2. Unveränderte Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988. S. 15. ↩︎

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