Schicksalsstöcke

Türchen 10: Die Schneekugel (Anna-Birke Lindewind)

Die Schneekugeln funkelten im Licht der Lampionkette wie erstarrte Seifenblasen. Jede, die in Emmas Blickfeld geriet, schien eine neue Welt zu zeigen: weiße Berge, auf denen Menschen schlittenfuhren, geschmückte Marktplätze und Winterwälder, die in ihrer Schneetracht glitzerten. Oder waren das alles Winkel einer einzigen Welt?

„Emma!“ Ihre Mutter zog sie am Ärmel. „Jetzt komm weiter. Der Weihnachtsmarkt ist groß. Es gibt noch mehr Stände.“

Doch Emma wollte nicht. Wenn sie ihr Gesicht weit genug der Kugel näherte, war es, als befände sie sich selbst in diesem Zauberland. Sie konnte von den Hügeln hinab ins Tal blicken, wo die Lichter eines Dorfes funkelten. Erleuchtete Fenster betrachteten sie von allen Seiten, wenn sie in die Kugel daneben huschte. Engel saßen auf den Dächern und sangen Lieder. Nicht die Weihnachtlieder, die sie aus der Schule kannte. Es waren Melodien und Worte, die sie niemals gehört hatte, so schön, dass sie nur dem Himmelsreich entstammen konnten. Einer der Engel griff nach ihrer Hand und zog sie hinauf in die Lüfte. Gemeinsam umkreisten sie einen Tannenbaum auf einem Marktplatz.

„Emma!“ Die Stimme ihrer Mutter wurde ungeduldiger.

„Gleich.“ Sie wandte den Kopf, um eine Gruppe Kinder zu betrachten, die sich eine Schneeballschlacht lieferten. Ihr Spiel sah lustig aus. Trotzdem gelang es Emma diesmal nicht, sich in das fremde Land ziehen zu lassen. Sie wirkten traurig, bemerkte sie erstaunt. Das lag nicht an den Figuren. Der Künstler hatte hervorragend gearbeitet. Sie schienen ausgelassen wie die Engel. Doch hinter diesen lächelnden Keramikgesichtern lag eine solche Traurigkeit, dass es schmerzte. Wie sollten sie sich auch freuen, dachte Emma plötzlich. Sie waren ja eingesperrt. Gefangen hinter Glas. Sie alle: die Kinder, die Engel, selbst die Berge.

Klirr!

Ihre Mutter zuckte zusammen. Auch die Verkäuferin fuhr herum und starrte die Sechsjährige an, die soeben eine der Kugeln aus dem Regal genommen und auf den Boden geworfen hatte.

Schimmernd lagen dort die Scherben des Glases und zwischen ihnen die Figuren.

„Emma“, kreischte ihre Mutter, doch Emma lächelte nur. Die Kinder zu ihren Füßen ebenfalls. Diesmal nicht nur ihre Gesichter.

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Bianca Grätz
Bianca Grätz
4 Jahre zuvor

eine zauberhafte kleine Geschichte – danke dafür <3